Prekäre Leben: Überlegungen zu den
Arbeiten von Gabriela Oberkofler

Helena Pereña

Eine Gruppe von Raubvögeln umkreist leuchtende Steine. Sie versuchen die kleinen Kostbarkeiten mit ihren Krallen zu greifen (Abb. S. kk). Preziosen, die trotz oder gerade wegen ihrer Schönheit den Tieren hilflos ausgeliefert sind. Gabriela Oberkofler beschäftigt sich mit dem Thema der Notwendigkeit in der Natur. Die Raubvögel können nicht anders: Sie müssen die Steine mitnehmen. Sie können für ihr Handeln jedoch nicht zur Verantwortung gezogen werden. Ein Raubtier, das tötet, kann nicht mit einem brutalen Mörder verglichen werden. Oder anders gesagt: Die Brutalität liegt im Auge des Betrachters.

Der moralische Unterschied zwischen Mensch und Tier bzw. anderen Spezies ist ein Topos der Philosophie seit der Antike. Friedrich Nietzsche bezeichnet den Menschen als „das einzige noch nicht festgestellte Thier“.1 Die Instinkte führen nicht ans Ziel, denn mit jedem Schritt eröffnen sich (zu) viele Optionen. Das menschliche Leben ist also durch stete und unvorhersehbare Veränderung geprägt, aber auch durch die Suche nach Identität, oder, um wieder mit Nietzsche zu sprechen, nach dem „wie man wird was man ist“.2 Die fehlende Festlegung menschlichen Handelns und die damit verbundene, zum Scheitern verurteilte Jagd nach einer beständigen Identität sind Leitthemen im Werk von Gabriela Oberkofler. Sie beschäftigt sich mit der sogenannten Volkskultur, mit Traditionen, Landschaften und landwirtschaftlichen Lebensumständen aus ihrer Herkunftsregion Südtirol. In ihren Arbeiten prallen Einsamkeit und Zerfall auf die vermeintlich identitätsstiftende Heimat. Die formale Schönheit ihrer Zeichnungen täuscht nicht über die beunruhigenden Motive hinweg. Dadurch entwickelt sich ein Kontrast von großer poetischer Intensität.

Alpen-Romantik?

In einer Fotoarbeit mit dem Titel „Salten/Dolomiten“ (Abb. S. aa) sitzt eine junge Frau im Dirndl auf einem prächtigen Pferd. Sie hält eine Mistgabel in der Hand. Es gibt etwas Entschlossenes in ihrem ruhigen, nach vorne gerichteten Blick, den ihr Pferd nachzuahmen scheint. Im Hintergrund der fantastischen Lärchenwiese sind die Dolomiten zu sehen. Diese Inszenierung (Süd-)Tiroler Tugenden wirkt perfekt — und dadurch zutiefst künstlich. Die Reiterin ist die Künstlerin selbst. Die Aufnahme, die bereits 2008 entstanden ist, verwendet sie noch 2016 als Visitenkarte. Was sagt das über Oberkoflers Identität aus? Die ironische Haltung wird deutlicher, wenn man bedenkt, dass sie in Stuttgart lebt. Auch in „Gipfelstürmen“ (Abb. S. aa) stellt die Künstlerin Stereotype über Alpenbewohner auf den Kopf. In dieser Videoarbeit besteigt die jodelnde, Ziehharmonika spielende und Dirndl tragende Oberkofler eine Baustelle, einen Trümmerhaufen aus Kriegszeiten und den Betonrest eines Zierbrunnens. Trotz der kritischen Haltung sind Oberkoflers Arbeiten nicht zerstörerisch. Ironisch säht Oberkofler leise Zweifel dort, wo sich Klischees festzusetzen drohen. Ihre subtile Vorgehensweise beschreibt die Künstlerin selbst in Bezug auf Zeichnungen als „das Motiv einmal rundherum komplett auseinander zu nehmen“, um etwas anderes entstehen zu lassen.3 Es ist eine Metamorphose, die ebenfalls in diesen frühen Arbeiten spürbar ist.

Die Zersetzung des Motivs beginnt, wenn die einzelnen Elemente erkannt werden. In Oberkoflers Zeichnungen spielt der leere Raum eine entscheidende Rolle. Dadurch tritt die Vereinzelung der Motive stärker hervor. Es entsteht die nötige Distanz zur Darstellung, die genug Raum für Konzentration bietet. Fragmente verdeutlichen, wie prekär Ganzheitsvorstellungen sind (Abb. S. kk, kk). Im Zusammenspiel mit der Leere lassen sie auch Stille zu, indem sie das Tempo der lesenden Betrachtung verlangsamen. Oberkofler beschreibt die Entstehung der „Heuballen“ (Abb. S. kk) folgendermaßen: „In meinen Heuballen ist auch die Landschaft enthalten, sie rollen wie Lawinen auf den Betrachter zu und sind nicht mehr aufzuhalten. Rein zeichnerisch habe ich den Inhalt, die Struktur des getrockneten Grases monatelang akribisch mit der Tuschefeder in die große Form eingeschrieben. Es ist mir sehr wichtig, dass die Motive in meinen Zeichnungen durch das Aufbringen von sehr viel Zeit zu Bildgegenständen werden und letztendlich viel mehr sind als zwei Heuballen, die im Herbst auf den Feldern liegen und darauf warten, von einer Riesenmaschine eingezogen zu werden.“4 Diese konstruktive Vorgehensweise steht im radikalen Gegensatz zu romantisierenden Bildtraditionen der Landschaftsdarstellung, die einen anthropozentrischen Blick auf die Natur inszenieren. Miniaturhaft und filigran versucht die Künstlerin, die Bestandteile der Heuballen einzeln auszumachen, um sie in ein Bild zu verwandeln. Dadurch werden konventionelle Repräsentationsstrategien von Grund auf in Frage gestellt.

Noch einen Schritt weiter geht Oberkofler in „Baum (Blätter, Blüten, Stängel)“ (Abb. S. kk). Der ursprüngliche Baum wurde hier in drei Bestandteile zerlegt und als Blätterhaufen, Blütenhaufen und Ästchenhaufen dargestellt. Die Zeichnung steht im Zusammenhang mit einer Aktion, bei der die Künstlerin Weihnachtsbäume, die nach den Feiertagen bereits entsorgt worden waren, in einen Ausstellungsraum brachte (Abb. S. aa, aa). Sie tragen bereits Spuren ihres Schicksals, denn die Stämme sind abgeschnitten und die Äste teilweise gebrochen. Die Bäume wurden nach und nach mit Hilfe vieler Besucher zerlegt. Dadurch sind sie als Weihnachtsbäume, sowohl in ihrer natürlichen als auch in ihrer traditionellen Erscheinung, verschwunden. Zu „Baum (Blätter, Blüten, Stängel)“ (Abb. S. kk) erklärt Oberkofler: „In meinem Kopf ist es immer noch ein Baum (ich sehe ihn im Wald), der im Laufe des Prozesses zu etwas anderem geworden ist. Zu etwas, das den Wandel unserer Zeit miterlebt hat. Es ist der Umgang mit Natur in einer zivilisierten Welt, in der nicht nur der Mythos von der Natur als solcher, sondern Wissen und Nutzbarmachen den Sinn für die Natur bestimmen.“5

Die Idee der zweiten Natur, mit der sich der Mensch nach dem Vorbild der ersten Natur umgibt, klingt hier an. Die zweite Natur ist gebaut, sie ist die Kultur und die sogenannte Zivilisation. Denn als nicht festgestelltes Tier kann sich der Mensch „nicht auf seine Instinkte verlassen. Wo ihn die Natur im Stich lässt, musste er, um überleben zu können, seine Evolution selber in die Hand nehmen“6. Die Entstehung der Naturwissenschaften durch Sortieren und Analysieren von Naturvorgängen, um sie zu bändigen, um der existentiellen Auslieferung an die Naturgewalten entgegenzuwirken, wird oft damit in Verbindung gebracht. Zeichnungen wie „Baum (Blätter, Blüten, Stängel)“ oder „Heuballen“ lassen sich aus der Nähe akribisch, beinahe wissenschaftlich, und aus der Ferne abstrakt betrachten. Die Kunst ist weder erste noch zweite Natur und vermag vielleicht deshalb eine Brücke zwischen beiden zu bilden.

Die Sehnsucht nach dem Tier

Tiere sind ein wichtiges Motiv im Werk von Gabriela Oberkofler. Wild- und Raubtiere, Vögel, Hunde, Pferde und viele Insekten begegnen uns in den Blättern — ob als schwer lesbarer Schwarm (Abb. S. aa) oder als porträthafte Darstellung (Abb. S. kk). Stets vereinzelt oder fragmentiert, auch in der Gruppe, sind sie immer wieder verletzt, blutend oder gar tot. Der seltsame Doppelblick des Wolfes in einer Zeichnung (Abb. S. kk) fordert das Gegenüber heraus: Wer blickt wen an? Ist das runde meine eigene Pupille? Der Betrachter wird zum Jäger.

Die direkte Gegenüberstellung mit dem wilden Tier übt nach wie vor eine große Anziehungskraft aus, die seit jeher Zoobesucher genauso begeistert wie Abenteurer. Als Identifikationsfigur und zugleich Bedrohung können Tiere, anthropologisch gesehen, noch die Verbindung zur ersten Natur, zu einem natürlichen Ursprung herstellen. Ihre wichtige Rolle im Mythos, in Märchen und in Fabeln lässt sie vermittelnd zwischen Natur und Kultur auftreten: Tiere erscheinen von den Ängsten der Menschen befreit. „Gerade beim Bilderbuchtier, ob kuschelig oder widerborstig, stellt sich für junge Leser schnell eine Vertrautheit ein, denn oftmals personifiziert es nur eine menschliche Eigenschaft. Und so verpacken Autoren unbeschwerte aber auch ernste Alltagsthemen gern in Tiergeschichten.“7 Aber auch die Kontrolle und Macht der Menschen — auch die der Kinder — über die Tiere spielen dabei eine zentrale Rolle: Die Bedrohung des Raubtieres wird durch dessen Ausrottung beseitigt. Am Ende gewinnt der Jäger.

Wenn sich Oberkofler mit Tieren beschäftigt, nimmt sie an einer sehr aktuellen Entwicklung der Kunst teil. Unter den recht verschiedenen Positionen, die darin auszumachen sind8, zielt ihre Kritik auf „verniedlichende oder verherrlichende“ Darstellungen, deren Konventionen auf reale Tiere projiziert werden.9 In der Videoarbeit „Mr. Nobel“ (Abb. S. kk, kk) zeigt Oberkofler die nächtlichen Runden eines alten Hundes in den Stuttgarter Wagenhallen, wo sich ihr Atelier befindet. Gelegentlich trifft Mr. Nobel auf eine weiße Katze. Sonst passiert nichts. Trotzdem werden die Sinne geschärft in der dunklen Nacht. Die Arbeit lädt zur Vertiefung ein. Es ist das poetische Porträt eines Hundes, der Tag und Nacht nichts anderes macht, als herumzuspazieren — in seiner „natürlichen“ Umgebung.

Die tägliche Wiederholung einer oder mehrerer Tätigkeiten, wie sie bei Tieren wie Mr. Nobel beobachtet wird, kann auch dem Menschen zu einer „Identität“ verhelfen. In der Installation „Filomena Egger, geb. Oberkofler“ (Abb. S. aa, aa) verweist Oberkofler auf eine bereits verstorbene Bäuerin, indem sie deren noch lebende Hühner mit beklemmenden Zeichnungen kombiniert. Filomena selbst ist in der Installation nicht zu sehen. Da die Pflege der Tiere ihren Tagesrhythmus bestimmte, erhielt sie durch solche äußerlichen Faktoren, durch ihre täglichen Aufgaben, eine prekäre Identität: eine Festlegung. Auf humorvolle Weise inszeniert Oberkofler eine andere Verbindung zwischen Tier und Identität in der Arbeit „Ahnengalerie“ (Abb. S. aa, aa). Sie habe unter Jagdtrophäen und ausgestopften Tieren Fotografien ihrer Vorfahren gefunden, schreibt sie dazu.10 Die Ahnen sind jedoch keine Menschen, sondern eine adrette Gruppe bestehend aus einem Hirsch, einer Ziege, einem Reh und einem Pferd, deren ovale Einrahmungen sowohl an Trophäen als auch an Kameen erinnern. Ist das ein darwinistisches Bekenntnis? Die Sehnsucht nach dem Tier erhält ein Augenzwinkern.

Das Leben als Verwesungsprozess

Verstorbene Ahnen können genauso wie Filomenas Alltagsroutine den Menschen Halt geben. Da es sich um abgeschlossene Leben handelt, können sie sich nicht mehr verändern. Eine stabile Genealogie ist dadurch garantiert. Lebende bergen dagegen Ungewissheit. Der Tod als identitätsstiftender Moment ist ein wiederkehrendes Thema in Literatur, Kunst und Philosophie. Erst mit dem Tod stimmt das Werden mit dem Zustand des „Seins“ überein — erst dann sind sie identisch. Rainer Maria Rilke beschreibt in den „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ das „individuelle Sterben“: „Das war nicht der Tod irgendeines Wassersüchtigen, das war der böse, fürstliche Tod, den der Kammerherr sein ganzes Leben lang in sich getragen und aus sich genährt hatte.“ Sogar die Kinder seiner Familie „starben das, was sie schon waren, und das, was sie geworden wären.“11

Die enge Verbindung zwischen Geburt und Tod erhält in Fällen von angeborenen Krankheiten und genetischen Fehlern eine andere, besonders virulente Dimension. Gabriela Oberkofler hat in den Naturwissenschaftlichen Sammlungen der Tiroler Landesmuseen eine Gruppe von Tieren mit Albinismus für einen Dialog mit ihren Zeichnungen ausgewählt (Abb. S. kk–kk). Ihnen fehlt aufgrund eines Gendefekts Melanin, das Pigment, das bei Wirbeltieren die Farbe von Haut, Fell und Federn bestimmt. Neben der Lichtempfindlichkeit, die bei Albinos zu Hautkrebs und Blindheit führen kann, werden sie von Raubtieren leicht entdeckt, da ihre natürliche Tarnung nicht funktioniert. Albinos sind daher zu einem frühen Tod verurteilt. Im künstlerischen Kontext wird oft nicht nur die Farbe Weiß, sondern auch das wilde Tier mit Unschuld assoziiert. Man fühlt sich gerade im Tiroler Volkskunstmuseum unwillkürlich an die Kindersterblichkeit erinnert: 1610 stellte der Haller Stadtarzt Hippolyt Guarinoni fest, dass unter „hundert geborenen Kindern, die Gott frisch und gesondt auff die Welt gebracht, nicht zehn erwachsen“ werden würden.12 Laut den Statistiken zur Säuglingssterblichkeit im „Demographischen Jahrbuch Österreich 2012“ starben in den Jahren 1871—1875 von 1000 Lebendgeborenen in Tirol 22,82 Prozent innerhalb des ersten Lebensjahres. Nach stetem Rückgang sank diese Zahl zwischen 1931 und 1935 unter zehn, erst ab den 1970er-Jahren unter zwei Prozent.13

Oberkofler hat sich im Volkskunstmuseum vor allem mit dem zur Schausammlung gehörenden Bereich „Das prekäre Leben“, in dem auf die Hoffnungen und Sorgen der Menschen eingegangen wird, intensiv auseinandergesetzt. Daraus ist die Serie „Votivfiguren“ entstanden (Abb. S. kk–kk). In ihrer persönlichen Interpretation des Themas erhalten manche Motive biomorphe Züge, wie bei zwei Stühlen, die auch für Käfer gehalten werden können (Abb. S. kk). Doch vor allem die Amulette, die im Zusammenhang mit Fruchtbarkeit und Geburt eingesetzt werden, stehen im Zentrum ihres Interesses: eine Votivkröte mit der mit ihr verbundenen Vorstellung, dass der Uterus einem im Körper umherwandernden Tier gleiche, das durch Beißen und Zwicken Unterleibsschmerzen verursache (Abb. S. kk, aa). Oder eine Stachelkugel (Abb. S. aa), die als Gebärvotiv den stechenden Unterleibsschmerz der Frau versinnbildlichen sollte. Oberkofler verwandelt sie in eine blumenreiche Fruchtbarkeitskugel (Abb. S. kk). Ein Wickelkind erinnert an die hohe Kindersterblichkeit in einer Zeit, als (zahlreiche) Nachkommen Existenzgrundlage vieler Familien waren (Abb. S. kk, aa).

Viele der Motive, die Oberkofler für ihre „Votivfiguren“ verwendet hat, erzählen einfach vom Leben längst verstorbener Menschen. Das Tiroler Volkskunstmuseum zeigt vor allem Gebrauchsgegenstände, die nicht mehr in Verwendung sind. Schön und zerbrechlich, dürfen die einstigen Alltagsobjekte oft nur noch vorsichtig angefasst werden. Da Oberkofler sie ganz vereinzelt auf dem weißen Blatt darstellt, verweisen die Kleidungsstücke für Kinder vor allem auf ihre fehlenden Besitzer (Abb. S. kk–kk). Liebesgaben wie eine Tabakdose (Abb. S. kk) erinnern an erloschene Leidenschaften. Indem Oberkofler nicht nur auf jegliches Beiwerk verzichtet, sondern auch Farbe und Form dynamisch verändert, bekommt die Abwesenheit eine schrille Präsenz. Die Toten werden zum Leben erweckt. Wie in „Filomena Egger, geb. Oberkofler“ (Abb. S. aa, aa) stehen Tiere bzw. Objekte aus dem Leben der Verstorbenen für deren, jedenfalls prekär auszumachende, Identität. Für die Ausstellung hat Gabriela Oberkofler eine Installation mit Trachtenschuhen von Frauen und Männern aus dem Museumsdepot arrangiert (Abb. S. kk). Durcheinander gebrachte Paare stehen mit den Fersen nach Außen auf einem runden Sockel. Diese für die Brautwerbung wichtigen, erotischen Symbole werden nun wieder gebraucht. Durch die ungewöhnliche Präsentation wird ihnen Leben eingehaucht.

Die Künstlerin hat noch zwei weitere Objekte aus dem Depot ausgewählt: den „Vogel Selbsterkenntnis“ (Abb. S. kk) und eine Kaffeemühle mit einer Bäuerin (Abb. S. kk). Das zweiköpfige Mischwesen aus Mensch und Tier, das sich in die Nase zwickt, ist eines der prägnantesten Sinnbilder der Selbstreflexion. Nur aus einer gewissen Distanz zu sich selbst ist die Möglichkeit zur Selbsterkenntnis überhaupt gegeben. Nietzsche verwendet für dieses Thema ebenfalls das Bild eines Tieres, das aus sich selbst heraustritt, um dadurch zu einer Art ekstatischer Selbstbetrachtung zu gelangen.14 Die Bäuerin der Kaffeemühle hingegen scheint das Gegenteil zu verkörpern. Die Verbindung ihrer Figur mit der Mühle schafft ein neuartiges Gebilde der Übereinstimmung. Die Funktion bestimmt ihre Identität, eine Selbstbetrachtung ist nicht mehr möglich. Prekärer könnte das Leben kaum sein.

In den Nachmittag geflüstert

Sonne, herbstlich dünn und zag,
Und das Obst fällt von den Bäumen.
Stille wohnt in blauen Räumen
Einen langen Nachmittag.

Sterbeklänge von Metall;
Und ein weißes Tier bricht nieder.
Brauner Mädchen rauhe Lieder
Sind verweht im Blätterfall.

Stirne Gottes Farben träumt,
Spürt des Wahnsinns sanfte Flügel.
Schatten drehen sich am Hügel
Von Verwesung schwarz umsäumt.

Dämmerung voll Ruh und Wein
Traurige Guitarren rinnen.
Und zur milden Lampe drinnen
Kehrst du wie im Traume ein.

Georg Trakl, 1912

1 Siehe u. a. Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral, in: Colli, Giorgio/Montinari, Mazzino (Hg.): Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 5, München 1980, S. 81.

2 Untertitel zu Friedrich Nietzsches Abhandlung „Ecce homo“.

3 Oberkofler, Gabriela/Meyer, Werner: Wenn nur noch bliebe, die Natur zu archivieren. Ein Gespräch zwischen Gabriela Oberkofler und Werner Meyer, in: Mayer, Werner/Reckert, Annett (Hg.): Schwarz ist die Nacht nie. Wind zog auf. Gabriela Oberkofler, Katalog Kunsthalle Göppingen und Städtische Galerie Delmenhorst 2016, Göppingen 2016, S. 7—23, S. 13.

4 Oberkofler/Meyer: Wenn nur noch bliebe, die Natur zu archivieren (wie Anm. 3), S. 18.

5 Oberkofler/Meyer: Wenn nur noch bliebe, die Natur zu archivieren (wie Anm. 3), S. 13.

6 Safranski, Rüdiger: Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch?, Frankfurt a. M. 2004, S. 7ff.

7 Hahn, Karin: Tiere in Kinderbüchern. Ehrliche Freunde, kluge Ratgeber, listige Feinde, in: Deutschlandfunk, 25.10.2014, http://www.deutschlandfunk.de/tiere-in-kinderbuechern-ehrliche-freunde-kluge-ratgeber.1202.de.html?dram:article_id=301386 (Zugriff: 21.11.2016).

8 Siehe z. B. Bechtloff, Dieter (Hg.): Kunstforum International. Out of Africa. Im Zoo der Kunst I, Bd. 174, Köln 2005, und Bechtloff, Dieter (Hg.): Kunstforum International. Die Genres der Fotografie. Im Zoo der Kunst II, Bd. 175, Köln 2005.

9 Jahn, Andrea: Look back in sorrow — Der Blick der Tiere in unseren Augen, in: Jahn, Andrea/Stadtgalerie Saarbrücken/Kunstverein Ulm (Hg.): Alles wieder zurück — Gabriela Oberkofler, Katalog Stadtgalerie Saarbrücken und Kunstverein Ulm 2014, Wien—Bozen 2014, S. 5—10, S. 5f.

10 Oberkofler, Gabriela: Die Ahnengalerie: Hirsch, Reh, Ziege, Kuh, in: Müller, Helmut A. (Hg.): Blut im Schuh — Gabriela Oberkofler, Katalog Hospitalhof Stuttgart 2009, Stuttgart 2010, unpaginiert.

11 Rilke, Rainer Maria: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in: Rilke-Archiv in Verbindung mit Sieber-Rilke, Ruth (Hg.): Sämtliche Werke, Bd. 6, Frankfurt a. M. 1987, S. 720f.

12 Guarinonius, Hippolytus: Die Grewel der Verwüstung Menschlichen Geschlechts. In sieben vnterschiedliche Bücher vnd vnmeidenliche Hauptstucken, sampt einem lustigen Vortrab abgetheilt ..., Ingolstadt 1610, (Reprint, hrsg. von Elmar Locher, Bozen 1993), S. 775.

13 STATISTIK AUSTRIA (Hg.): Demographisches Jahrbuch Österreich 2012, Wien 2013, S. 236.
Vgl. zu Kindersterblichkeit: Macho, Thomas: Der vorzeitige Tod, in: Felderer, Brigitte (Hg.): Das Letzte im Leben. Einträge zu Sterben und Trauer 1765 bis heute, Wien 2015, S. 105—111.

14 Nietzsche, Friedrich: Ecce homo, in: Colli/Montinari (Hg.): Friedrich Nietzsche (wie Anm. 1), S. 263, 339.