»Glokale Welten« – Heimat als Lebensform
Günter Baumann
»… Grün ist der wald, perg, au, gevild und tal. /
die nachtigal / und aller voglin schal /
an höret ane zal / erklingen überal …«
(Oswald von Wolkenstein, »o wunniklicher, wolgezierter mai«)
»Das Kalb geht die Nacht ein / Ich schlaf draußen
im Stall / Hier, die Suppen is in der Kanna /
Geh fei ins Bett, morgen müss ma naus«
(Nora Gomringer, »Bauernzart«)
Plötzlich ist die »Heimat« wieder in aller Munde, am lautesten da, wo sie rückwärtsgewandt und damit obsolet ist – und zugleich ist der Begriff dadurch so aktuell, dass man ihn nicht nur diskutieren muss, sondern ihn bei der Gelegenheit zugleich rehabilitieren kann gegen die ewig gestrigen Apologeten des Stammtischraunens. Gabriela Oberkofler verwendet »Heimat« demgegenüber hintergründig und auffallend leise, betont nebensächlich, als künstlerische Idee und als gesellschaftliche Utopie – und nicht zuletzt als Lebensform. Grund genug, die Zeichnerin, Objekt-, Performance- und Videokünstlerin zur Preisträgerin des Gerlinde-Beck-Preises für Skulptur 2018 zu küren. Die Subsumierung ihres Werks unter die Skulptur mag zunächst irritieren. Einer ihrer akademischen Lehrer, Werner Pokorny, schrieb in einem Vorwort 2012: »Kann Zeichnen an sich, das Zeichnen der einfachen Dinge, können plastische Überlegungen, überhaupt bildnerische Versuche, eine Möglichkeit sein, Positionen in einer immer komplexer werdenden Situation zu markieren?« Ihr Lieblingsmedium – die Zeichnung – als »plastische Überlegung« anzugehen, dürfte Gabriela Oberkofler gefallen, sieht sie ihre Kunst doch weniger als technische Bildsprache denn als Gesellschaftsbild. Die soziale Plastik zu bemühen, wäre hier zwar möglich, doch würde man das Werk der Künstlerin dabei zu sehr in die Nachfolge von Joseph Beuys stellen, dessen Privatmythen anderer Natur waren als ihre Anbindung der Kunst an die wirkliche Natur – im Hinblick auf die Entfremdung des Menschen von ihr und auf die Gewalt, die der Mensch ihr antut. So ist ihr privater Blick weniger mythisch als tatsächlich auf eine sagenhafte Heimat gerichtet, die für die Südtirolerin aus dem kleinen Bergdorf Jenesien bei Bozen eine ganz andere, eigene Natur darstellt, als gemeinhin beim Tönen von der ›Heimat‹ anklingt. Bevor man sich der unlösbaren Frage stellt, ob Heimat ein (Schicksals-)Ort, eine (politische) Vorstellung oder ein (subjektives) Gefühl ist oder doch gleich alles zugleich, sei das Begriffsfeld kurz literarisch skizziert. Es sind weniger die Künstler, die sich hier hervortun, als die Autoren, sei es in ironischer Verweigerung wie bei Herbert Achternbusch, der das im Grunde nicht übersetzbare Wort »Heimat« von bayr. ›hemad‹ (Hemd) ableitet, was einem eben am nächsten sei, oder als kritische These: bei Robert Menasse (»Heimat ist ein Menschrecht, Nation ein Verbrechen«), Hertha Müller (»Phantomschmerz im Erinnern«) oder Bernhard Schlink (»Das eigentliche Heimatgefühl ist Heimweh«). Heimat lässt sich nicht definieren, aber es lässt sich erzählen.
Gabriela Oberkofler dokumentiert keine Heimat, obwohl sie ihr Bild von Jenesien nicht nur im Herzen trägt, sondern auch im Werk inszeniert – dann jedoch so, dass es allgemeine Gültigkeit erhält. Und wenn sie schon die Natur mit einbezieht, entsteht auch mal im Vorgarten ihres Ateliers – der ›Rosensteinalm‹ – in den Stuttgarter Wagenhallen ein artgerechter Hühnerstall, der das ländliche Sein in die Brachen der Industrie transloziert. Überhaupt gestaltet sie mit all ihren Ausstellungen Räume, die zwar von einer fein ziselierten, mal mikro- und mal makroskopisch vertieften oder teilweise monumentalisierten Zeichnung dominiert werden, aber über ihr plastisches Denken zum Environment, zur Raumskulptur werden. In einer solchen durchaus erzählerischen Anverwandlung von Welt tritt Ernst Bloch als Gewährsmann in ihr Werk, der die Heimat bereits 1946 zum vorwärts gewandten Sehnsuchtsort und zum gesellschaftlichen Desiderat erklärt hat, kurzum zur Gegenposition aller rechter Deutungsversuche: Heimat nicht als Abgrenzung vom Fremden, sondern als »philosophischer Begriff gegen die Entfremdung« an sich, eine Welt, »wo das Objekt nicht mehr behaftet ist mit einem ihm Fremden«. In »Das Prinzip Hoffnung« heißt es: »Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.«
Die Arbeiten Gabriela Oberkoflers zeichnen sich aus durch Brüche und Fehlstellen, Auslassungen. »Es geht mir darum zu zeigen, dass etwas fehlt.« Da liegt ihre Wurzelbehandlung, die auch schmerzt: etwa wenn auf Tischen ihre fiktiv-wirkliche Heimat ausgebreitet liegt – als geschnitzte Erinnerungsstücke ein Kirchturm, Boote, Fischköpfe, die aus dem Wasser rauszuschauen scheinen, ein Brunnen, eine Brücke, ein halbes Haus, eine Strickliesl, Heuballen, Pferde- und Rehbeine, Relikte des vergangenen Seins, daneben Pflanzen, die zerpflückt nach Blättern, Stielen, Ästen sortiert sind, mithin zerstört. Kunst hier, Natur dort. Dazwischen gruppiert die naturverbundene Gasthoftochter so genannte »Kleine Hybride«, Vermischtes, Gekreuztes. Objekthafte Tonschalen mit realen Pflanzen, darin kooperierende Wuchsformen wie Pilze und Flechten, auch Missverhältnisse: Pflanzen, die sich verdrängen, die Seinsgrundlagen entziehen. Zu dieser plastischen Welt der Erinnerungen, Fraktale, des Floralen und Skulpturalen kommt – man möchte fast sagen – die eigentliche, zeichnerische Welt, auch mit »Hybride« überschrieben. Gabriela Oberkofler entwirft eine filigrane, farbflirrende Blütenkultur, mit Papayas, Orchideen, Granatäpfeln, Hibiskus, Kokosnuss. Bei allem Realismus geht es dabei nicht um Naturnähe, sondern um eine gesellschaftliche Kategorie. Wir sehen Überformungen, Neubildungen, Querschnitte von Stängeln und Blüten, Zellstrukturen. Diese analytische Sicht überspielt elegant soziale Fragen: Wer hat hier die Kontrolle über die Natur? Wie leben die Arten miteinander? Wer verdrängt wen, wer nützt wem? Und was ist die Natur? Wir sehen sie durch den Züchterblick der Zivilisation, der Gesellschaft, sie hat zu liefern, was wir von ihr erwarten. Die lokale Region, die intime Welt, trifft auf die Zugeständnisse der Globalisierung – die ›Oberkoflerin‹ hat dafür das Wort »glokal« gefunden. Die Vermengung privater und allgemeiner Fragen, die »Sorgen, Teil eines … unbekannten Kontextes zu sein«, in Verbindung mit dem Heimweh, der Angst vor der Heimatlosigkeit durch aufgepropfte Formen des Zusammenlebens, lassen das Werk über das Naturbild hinaus gehen. »Ich denke, dass in diesem Zusammenhang der Hybridbegriff ›glokal‹ eine wichtige Rolle spielt«, so sagte Gabriela Oberkofler in einem Interview. »Ich habe immer davon geträumt, das, was mich ausmacht – also meine Kultur oder eben das, was meine Eltern und mein Dorf mir mitgegeben haben – das alles einfach mitzunehmen auf meine Reisen.« Die Aufgabe der Kunst ist es, diesen ambivalenten Verhältnissen eine Bühne zu geben. Die Zeichnerin erschafft eine vielschichtige Welt aus Versatzstücken unsrer Erinnerungen, Erfahrungen und Kenntnisse. Mit ihren plastischen Überlegungen zur Natur und zur Heimat geht sie über das Zeichnerische hinaus und markiert gesellschaftliche Zusammenhänge. Der große Aufklärer Gotthold Ephraim Lessing wusste es schon: »In der Natur ist alles mit allem verbunden, alles durchkreuzt sich, alles wechselt mit allem, alles verändert sich eines in das andere.« Im Hinblick auf die Heimat und ihre Verortung im vorausblickenden Geist sei noch einmal Ernst Bloch zitiert, der mit seinem Credo ein Motto liefern könnte für eine Künstlerin, die den Nachkriegs-Trümmerberg von Stuttgart, den sogenannten Monte Scherbelino, bestiegen hat, um ihn zu »bejodeln«, die zusammen mit den Kastelruther Spatzen aufgetreten ist, um die Leere des Fremdseins mit der Illusion von Heimat zu füllen, die sich in einer Phantasietracht hoch zu Pferde mit einer Mistgabel in der Hand vor einer Alpenkulisse hat fotografieren lassen, um dem bäuerlichen Leben (und indirekt auch der Künstlerkollegin Marina Abramovic) Tribut zu zollen, und die in einer Performance namens »Buggelkraxen« mit einer Trage voller Kistenbretterhäuser durch die Dorfstraße schreitet – also mit einer transportablen Plastik auf dem Rücken oder gar selbst als lebende Skulptur: »Denken heißt überschreiten.«
»Glokale Welten« – Heimat als Lebensform
Günter Baumann
»… Grün ist der wald, perg, au, gevild und tal. /
die nachtigal / und aller voglin schal /
an höret ane zal / erklingen überal …«
(Oswald von Wolkenstein, »o wunniklicher, wolgezierter mai«)
»Das Kalb geht die Nacht ein / Ich schlaf draußen
im Stall / Hier, die Suppen is in der Kanna /
Geh fei ins Bett, morgen müss ma naus«
(Nora Gomringer, »Bauernzart«)
Plötzlich ist die »Heimat« wieder in aller Munde, am lautesten da, wo sie rückwärtsgewandt und damit obsolet ist – und zugleich ist der Begriff dadurch so aktuell, dass man ihn nicht nur diskutieren muss, sondern ihn bei der Gelegenheit zugleich rehabilitieren kann gegen die ewig gestrigen Apologeten des Stammtischraunens. Gabriela Oberkofler verwendet »Heimat« demgegenüber hintergründig und auffallend leise, betont nebensächlich, als künstlerische Idee und als gesellschaftliche Utopie – und nicht zuletzt als Lebensform. Grund genug, die Zeichnerin, Objekt-, Performance- und Videokünstlerin zur Preisträgerin des Gerlinde-Beck-Preises für Skulptur 2018 zu küren. Die Subsumierung ihres Werks unter die Skulptur mag zunächst irritieren. Einer ihrer akademischen Lehrer, Werner Pokorny, schrieb in einem Vorwort 2012: »Kann Zeichnen an sich, das Zeichnen der einfachen Dinge, können plastische Überlegungen, überhaupt bildnerische Versuche, eine Möglichkeit sein, Positionen in einer immer komplexer werdenden Situation zu markieren?« Ihr Lieblingsmedium – die Zeichnung – als »plastische Überlegung« anzugehen, dürfte Gabriela Oberkofler gefallen, sieht sie ihre Kunst doch weniger als technische Bildsprache denn als Gesellschaftsbild. Die soziale Plastik zu bemühen, wäre hier zwar möglich, doch würde man das Werk der Künstlerin dabei zu sehr in die Nachfolge von Joseph Beuys stellen, dessen Privatmythen anderer Natur waren als ihre Anbindung der Kunst an die wirkliche Natur – im Hinblick auf die Entfremdung des Menschen von ihr und auf die Gewalt, die der Mensch ihr antut. So ist ihr privater Blick weniger mythisch als tatsächlich auf eine sagenhafte Heimat gerichtet, die für die Südtirolerin aus dem kleinen Bergdorf Jenesien bei Bozen eine ganz andere, eigene Natur darstellt, als gemeinhin beim Tönen von der ›Heimat‹ anklingt. Bevor man sich der unlösbaren Frage stellt, ob Heimat ein (Schicksals-)Ort, eine (politische) Vorstellung oder ein (subjektives) Gefühl ist oder doch gleich alles zugleich, sei das Begriffsfeld kurz literarisch skizziert. Es sind weniger die Künstler, die sich hier hervortun, als die Autoren, sei es in ironischer Verweigerung wie bei Herbert Achternbusch, der das im Grunde nicht übersetzbare Wort »Heimat« von bayr. ›hemad‹ (Hemd) ableitet, was einem eben am nächsten sei, oder als kritische These: bei Robert Menasse (»Heimat ist ein Menschrecht, Nation ein Verbrechen«), Hertha Müller (»Phantomschmerz im Erinnern«) oder Bernhard Schlink (»Das eigentliche Heimatgefühl ist Heimweh«). Heimat lässt sich nicht definieren, aber es lässt sich erzählen.
Gabriela Oberkofler dokumentiert keine Heimat, obwohl sie ihr Bild von Jenesien nicht nur im Herzen trägt, sondern auch im Werk inszeniert – dann jedoch so, dass es allgemeine Gültigkeit erhält. Und wenn sie schon die Natur mit einbezieht, entsteht auch mal im Vorgarten ihres Ateliers – der ›Rosensteinalm‹ – in den Stuttgarter Wagenhallen ein artgerechter Hühnerstall, der das ländliche Sein in die Brachen der Industrie transloziert. Überhaupt gestaltet sie mit all ihren Ausstellungen Räume, die zwar von einer fein ziselierten, mal mikro- und mal makroskopisch vertieften oder teilweise monumentalisierten Zeichnung dominiert werden, aber über ihr plastisches Denken zum Environment, zur Raumskulptur werden. In einer solchen durchaus erzählerischen Anverwandlung von Welt tritt Ernst Bloch als Gewährsmann in ihr Werk, der die Heimat bereits 1946 zum vorwärts gewandten Sehnsuchtsort und zum gesellschaftlichen Desiderat erklärt hat, kurzum zur Gegenposition aller rechter Deutungsversuche: Heimat nicht als Abgrenzung vom Fremden, sondern als »philosophischer Begriff gegen die Entfremdung« an sich, eine Welt, »wo das Objekt nicht mehr behaftet ist mit einem ihm Fremden«. In »Das Prinzip Hoffnung« heißt es: »Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.«
Die Arbeiten Gabriela Oberkoflers zeichnen sich aus durch Brüche und Fehlstellen, Auslassungen. »Es geht mir darum zu zeigen, dass etwas fehlt.« Da liegt ihre Wurzelbehandlung, die auch schmerzt: etwa wenn auf Tischen ihre fiktiv-wirkliche Heimat ausgebreitet liegt – als geschnitzte Erinnerungsstücke ein Kirchturm, Boote, Fischköpfe, die aus dem Wasser rauszuschauen scheinen, ein Brunnen, eine Brücke, ein halbes Haus, eine Strickliesl, Heuballen, Pferde- und Rehbeine, Relikte des vergangenen Seins, daneben Pflanzen, die zerpflückt nach Blättern, Stielen, Ästen sortiert sind, mithin zerstört. Kunst hier, Natur dort. Dazwischen gruppiert die naturverbundene Gasthoftochter so genannte »Kleine Hybride«, Vermischtes, Gekreuztes. Objekthafte Tonschalen mit realen Pflanzen, darin kooperierende Wuchsformen wie Pilze und Flechten, auch Missverhältnisse: Pflanzen, die sich verdrängen, die Seinsgrundlagen entziehen. Zu dieser plastischen Welt der Erinnerungen, Fraktale, des Floralen und Skulpturalen kommt – man möchte fast sagen – die eigentliche, zeichnerische Welt, auch mit »Hybride« überschrieben. Gabriela Oberkofler entwirft eine filigrane, farbflirrende Blütenkultur, mit Papayas, Orchideen, Granatäpfeln, Hibiskus, Kokosnuss. Bei allem Realismus geht es dabei nicht um Naturnähe, sondern um eine gesellschaftliche Kategorie. Wir sehen Überformungen, Neubildungen, Querschnitte von Stängeln und Blüten, Zellstrukturen. Diese analytische Sicht überspielt elegant soziale Fragen: Wer hat hier die Kontrolle über die Natur? Wie leben die Arten miteinander? Wer verdrängt wen, wer nützt wem? Und was ist die Natur? Wir sehen sie durch den Züchterblick der Zivilisation, der Gesellschaft, sie hat zu liefern, was wir von ihr erwarten. Die lokale Region, die intime Welt, trifft auf die Zugeständnisse der Globalisierung – die ›Oberkoflerin‹ hat dafür das Wort »glokal« gefunden. Die Vermengung privater und allgemeiner Fragen, die »Sorgen, Teil eines … unbekannten Kontextes zu sein«, in Verbindung mit dem Heimweh, der Angst vor der Heimatlosigkeit durch aufgepropfte Formen des Zusammenlebens, lassen das Werk über das Naturbild hinaus gehen. »Ich denke, dass in diesem Zusammenhang der Hybridbegriff ›glokal‹ eine wichtige Rolle spielt«, so sagte Gabriela Oberkofler in einem Interview. »Ich habe immer davon geträumt, das, was mich ausmacht – also meine Kultur oder eben das, was meine Eltern und mein Dorf mir mitgegeben haben – das alles einfach mitzunehmen auf meine Reisen.« Die Aufgabe der Kunst ist es, diesen ambivalenten Verhältnissen eine Bühne zu geben. Die Zeichnerin erschafft eine vielschichtige Welt aus Versatzstücken unsrer Erinnerungen, Erfahrungen und Kenntnisse. Mit ihren plastischen Überlegungen zur Natur und zur Heimat geht sie über das Zeichnerische hinaus und markiert gesellschaftliche Zusammenhänge. Der große Aufklärer Gotthold Ephraim Lessing wusste es schon: »In der Natur ist alles mit allem verbunden, alles durchkreuzt sich, alles wechselt mit allem, alles verändert sich eines in das andere.« Im Hinblick auf die Heimat und ihre Verortung im vorausblickenden Geist sei noch einmal Ernst Bloch zitiert, der mit seinem Credo ein Motto liefern könnte für eine Künstlerin, die den Nachkriegs-Trümmerberg von Stuttgart, den sogenannten Monte Scherbelino, bestiegen hat, um ihn zu »bejodeln«, die zusammen mit den Kastelruther Spatzen aufgetreten ist, um die Leere des Fremdseins mit der Illusion von Heimat zu füllen, die sich in einer Phantasietracht hoch zu Pferde mit einer Mistgabel in der Hand vor einer Alpenkulisse hat fotografieren lassen, um dem bäuerlichen Leben (und indirekt auch der Künstlerkollegin Marina Abramovic) Tribut zu zollen, und die in einer Performance namens »Buggelkraxen« mit einer Trage voller Kistenbretterhäuser durch die Dorfstraße schreitet – also mit einer transportablen Plastik auf dem Rücken oder gar selbst als lebende Skulptur: »Denken heißt überschreiten.«