Wenn nur noch bliebe, die Natur zu archivieren
Ein GesprÀch zwischen Gabriela Oberkofler und Werner Meyer
Werner Meyer: Das Zentrum der Ausstellung Schwarz ist die Nacht nie in der Kunsthalle Göppingen ist die Installation Weihnachtsbaumarchiv,(vgl. S. 8âââ10, 14, 17) ein partizipatorisches Bild, das von dem alljĂ€hrlichen Schicksal der WeihnachtsbĂ€ume handelt. Circa 60 BĂ€ume, alle in ZimmergröĂe geschnitten, stehen dicht gedrĂ€ngt in einem Holzgestell. Meist handelt es sich um die handelsĂŒblichen Nordtannen, auch andere TannenbĂ€ume sind darunter. Vereinzelt finden sich noch Spuren von dem Schmuck, mit dem die WeihnachtsbĂ€ume glanzvoll das Zentrum der familiĂ€ren Feierlichkeiten und Rituale um Jesu Geburt bildeten. Jetzt sind sie anonym, verlieren ihre Nadeln und lassen ihre VergĂ€nglichkeit spĂŒren. In dieser Anordnung wird deutlich, dass diese BĂ€ume, die noch vor kurzem mit so viel Liebe, Sorgfalt und Feierlichkeit ausgewĂ€hlt waren, fĂŒr eines der wichtigsten Feste der Christenheit das symbolische Zentrum zu sein, ausgedient haben. Andererseits sind diese wenigen exemplarischen TannenbĂ€ume vorlĂ€ufig âgerettetâ vor der ĂŒblichen sang- und klanglosen Entsorgung und haben die Chance, ihr Leben und ihre eigentlich besondere Geschichte anders zu beenden.
Gabriela Oberkofler: Ja, ich habe sie âgerettetâ vor der Bedeutungslosigkeit, auch wenn ich den Prozess des Naturverbrauchs nicht rĂŒckgĂ€ngig machen kann. Dieses melancholische Bild der manchmal riesigen Haufen ausgedienter WeihnachtsbĂ€ume, das sich mir jedes Jahr nach dem 6. Januar, nach Epiphanias, dem Fest der Ankunft der drei Weisen aus dem Morgenland, zeigt, ist ausschlaggebend fĂŒr meine Installation. Die entsorgten WeihnachtsbĂ€ume, die an diesen kalten, grauen Wintertagen am StraĂenrand landen, denen man schon von Weitem ansieht, dass sie ihre Glanzzeit hinter sich haben, wurden von mir mit einem Lastwagen abgeholt und in der Kunsthalle Göppingen wieder aufgestellt. Dank des HolzgerĂŒstes, das mir als Fassung dient, wurden die BĂ€ume wieder zu einem Wald, eigentlich zu einem Bild, das an die geordnete und effiziente landwirtschaftliche Aufforstung erinnert, dieses Warten der BĂ€ume in Reih und Glied auf ihre wesentliche Bestimmung, die ihnen nicht von der Natur, sondern von der Kultur der Menschen vorgegeben ist.
WM: Hier enden die BĂ€ume nicht in einem Schredder und werden zu Humus, sondern unsere Installation ist ein Archiv, in dem ihre Existenz im geordneten Bild aufgehoben ist â in zweifacher Weise: zunĂ€chst sind sie vom Boden aufgehoben und bewahrt worden, und dann erlebt ihre natĂŒrliche Gestalt als Baum eine Metamorphose, eine Apotheose in einem Zustand geordneter Auflösung âŠ
GO: ⊠eben in einem Archiv der WeihnachtsbĂ€ume. Erst steht der Wald als eine Fortsetzung des Landschaftsbildes wieder vor Augen. Dann, schön langsam, haben wir begonnen, in Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern der Kunsthalle Göppingen und den Besuchern der Ausstellung, Baum fĂŒr Baum zu zerlegen. Jeder Baum bekommt ein ihm zugehöriges Aufbewahrungssystem, einen groĂen Karton fĂŒr den ganzen Baum, darin kleinere Schachteln fĂŒr seine Teile. Durch das Zerlegen der BĂ€ume, durch das Aufbringen der vielen Zeit â eine Woche fĂŒr einen Baum â wird der Baum gewĂŒrdigt. Das Bild des Weihnachtsbaumes verschwindet und die Tradition löst sich auf. Sehr sorgfĂ€ltig und akribisch werden die einzelnen Bestandteile des Baumes nach den verschiedenen GröĂen der Ăste sortiert, die Nadeln und Samen sind abgetrennt und in wieder anderen Schachteln auf-bewahrt. Ein neues Bild, ein anderes Bild von den einzelnen BĂ€umen entsteht, das meiner Wahrnehmung dieser BĂ€ume in meinem Bild entspricht.
WM: Das Publikum ist aufgefordert, teil zu haben an diesem Verwandlungsprozess. Auf einem Tisch, gezimmert aus denselben Modulen wie das Gestell, liegen die Scheren, die man braucht, um selbst Hand anzulegen und die BĂ€ume bis in ihre kleinsten Elemente zu zerlegen und diese einzusortieren in die unterschiedlich groĂen Kartons, die mit ihrem Inhalt unsere Ausstellung ĂŒberdauern werden.
GO: FĂŒr meine kĂŒnstlerische Vorgehensweise bedeutet das Sortieren der Elemente intensive Zuwendung und Hingabe.Ich bin in einem Dorf in den SĂŒdtiroler Alpen aufgewachsen. Als ich Kind war, ging mein Vater mit mir und meinen Geschwistern in den Wald. Wir haben einen Baum ausgesucht, ihn gefĂ€llt und nach Hause gebracht. Das geht heute nicht mehr, denn dann wĂ€ren unsere WĂ€lder gerodet. Die Produktion von WeihnachtsbĂ€umen geschieht heute auf landwirtschaftlich industrielle Weise. Mit sehr viel energetischem und logistischem Aufwand werden pĂŒnktlich die WeihnachtsmĂ€rkte eröffnet, wo die BĂ€ume vermarktet werden. Die eigentliche Zeit der WeihnachtsbĂ€ume dauert gerade mal drei Wochen lang, zuerst im Rahmen der idyllischen WeihnachtsmĂ€rkte â in Göppingen âWaldweihnachtâ â , dann in der Weihnachtszeit in den Wohnzimmern der Familien, in der die Tannen mit all ihrem Schmuck ihre Bedeutung gewinnen und zum zentralen Bild werden, und dann ist die Zeit vorbei. Die BĂ€ume werden aus den Wohnzimmern wieder verbannt und entsorgt.
Dem wollte ich entgegenwirken. Diesen Kreislauf wollte ich unterbrechen! Stop! Alle BĂ€ume wieder rein! Diesmal in den Ausstellungsraum, dahin wo die Kunst unser Leben spiegelt. Der Wald ist fast wieder da! Leider geht das nicht so einfach. Die StĂ€mme sind abgeschnitten, die BrĂŒche bereits sichtbar.
WM: Als Kind hast Du ein in gewisser Weise naives und direktes und zunĂ€chst ungebrochenes VerhĂ€ltnis zur Natur entwickelt. Als KĂŒnstlerin lebst und arbeitest Du in der Stadt. Du stellst Bilder her, die unser kulturelles VerhĂ€ltnis zur Natur zum Thema haben. Die Kultivierung und der Verbrauch von Natur sind verbunden mit den Bildern, in denen wir romantische Idyllen und Utopien in die Natur projizieren und zugleich ĂŒbermĂ€chtig die BrĂŒche zwischen Natur und Kultur wahrnehmen. Es ist die StĂ€rke deiner Bilder, dass wir nochmals eine spĂŒrbare NĂ€he zu ihrem Gegenstand finden, um zugleich auch unmittelbar die Distanz zur Natur erkennen, wenn wir mit ihr umgehen.
GO: Als KĂŒnstlerin entwickle ich so etwas wie Empathie mit den GegenstĂ€nden und Motiven meiner Bilder. Da ist der Blick fĂŒr die Schönheit, fĂŒr das Eigene der Natur, zum Beispiel fĂŒr die Form, fĂŒr das Eigenleben, schlussendlich auch fĂŒr den Tod und Verfall eines Baumes und eines Waldes. Und da entwickelt sich auch der Sinn dafĂŒr, dass dies eben nicht (mehr) ein natĂŒrlicher Prozess ist, sondern mit Aneignung und Verwertung zu tun hat. Wir suchen und finden Natur zum Beispiel im Wald, in den BĂ€umen, und eigentlich suchen und finden wir ein romantisches Bild, das â reichlich verĂ€ndert â noch bis in die WeihnachtsmĂ€rkte und die VerkaufsstĂ€nde fĂŒr WeihnachtsbĂ€ume seine Bedeutung hat. Kein Baum reicht weiter in das stĂ€dtische und private, familiĂ€re Leben als der Tannenbaum und seine Metamorphose zum Weihnachtsbaum. Aber diese Geschichte wird vielleicht nicht weit genug erzĂ€hlt.
WM: In deinen Bildern finde ich immer wieder als Generalthema die Auflösung, die De-Konstruktion, die zu anderen Formen und damit zu anderen Bildern fĂŒhrt. Die groĂformatige Zeichnung Baum (BlĂ€tter, BlĂŒten, Stengel), 2014, (vgl. S. 59âââ61) scheint mir dies konsequent vor Augen zu fĂŒhren.
GO: Ich bin sehr traditionell aufgewachsen in gelebter SĂŒdtiroler Kultur. Es ist so wohltuend und fĂŒr mich nicht zerstörerisch, das Motiv einmal rundherum komplett auseinander zu nehmen. Baum (BlĂ€tter, BlĂŒten, Stengel) ist ein schönes Beispiel. Nur so kann fĂŒr mich ein mögliches Verstehen stattfinden. Ich höre es fast in meinen Gedanken rascheln, das Nachvollziehen einer VerĂ€nderung ist fast körperlich möglich. In meinem Kopf ist es immer noch ein Baum (ich sehe ihn im Wald), der im Laufe des Prozesses zu etwas anderem geworden ist. Zu etwas, das den Wandel unserer Zeit miterlebt hat. Es ist der Umgang mit Natur in einer zivilisierten Welt, in der nicht nur der Mythos von der Natur als solcher, sondern Wissen und Nutzbarmachen den Sinn fĂŒr die Natur bestimmen.
WM: Noch nĂ€her kommt deinem Weihnachtsbaumarchiv meines Erachtens die Zeichnung Latschenkiefer,2015 (vgl. S. 49âââ53). Dabei hat dich ganz offensichtlich die klassische Tradition der botanischen Zeichnung inspiriert. Gleichzeitig hast du der Latschenkiefer als ganz besonderem Baum deiner Heimat ein Denkmal gesetzt.
GO: Die Latschenkiefer als strauchförmigen Baum habe ich in den Sarntaler Alpen entdeckt. Unterhalb der Baumgrenze wĂ€chst diese Latschenkiefer in groĂen Mengen eingebunden in eine Stein- und Flechtenlandschaft. Es entsteht ein Gesamtbild, das mich auch hinsichtlich der Farben sehr beeindruckt hat: DunkelgrĂŒn, NeongrĂŒn, Grau, Schwarz und kleinere rote Punkte, bei schönem Wetter noch das Blau des Himmels. Dieser Baum ist klein und wĂ€chst geduckt am Boden. Alle seine Teile sind wertvoll. So dient das Holz der Ăste der Herstellung des sehr begehrten Latschenkieferöls, das in der Medizin und Kosmetik Verwendung findet. Mich hat diese Pflanze auch interessiert wegen ihres ungewöhnlichen Standortes, an der Baumgrenze, 1.800 m bis 2.500 m ĂŒber dem Meeresspiegel, auf vulkanischem Boden. Ausgehend von botanischen, frĂŒhen naturwisssenschaftlichen Zeichnungen (z.B. denen der Maria Sybilla Merian) zerlege ich die Pflanze aus meiner Sicht nicht nur in ihre Bestandteile, sondern auch in ihre Elemente zu unterschiedlichen Jahreszeiten und in unterschiedliche Wachstumsstadien.
Die Zapfen kommen in meiner Zeichnung sehr oft vor. Als weibliche oder mĂ€nnliche BlĂŒten, als grĂŒne oder gelbe Sprösslinge, als rot gereifte Zapfen, als Samen. In ihre Bestandteile zerlegt erscheinen sie wie kleine rote Schuppen, wie grĂŒne Punkte. Ich zeichne sie im Querschnitt und in Symbiose mit Flechten. Rote Schuppen mit schwarzen Punkten oder grĂŒne lĂ€ngsförmige, Millimeter groĂe oder gelbe Gebilde mit rosa Inhalt. Das Gleiche interessiert mich an den Nadeln, den Ăsten usw. Es eröffnet sich ein unerschöpflicher Kosmos, der die Schönheit und Besonderheit dieser Heilpflanze aufscheinen lĂ€sst.
Gleichzeitig zeigt die Zeichnung auch den Kreislauf von Verwertbarkeit und Nutzen einer Pflanze. Das Herstellen des Ăles ist ein langwieriger Prozess, der zwangslĂ€ufig das Roden und ZerstĂŒckeln der Pflanze mit sich bringt. Ein Wildwuchs ohne Rodung ist auch in den abgelegenen Sarntaler Alpen nicht möglich.
WM: Wenn man nahe genug an deine Zeichnungen herantritt, am besten so nahe wie du ihnen bist, wenn du zeichnest, dann erkennt man, wie bei dir die Motive aus einer Vielzahl von kleinen autonomen Strichen und Mustern entstehen. Was aus der Ferne fast impressionistisch naturnah aussieht, entpuppt sich aus der NÀhe als ein Prozess der Abstraktion, der davon ausgeht, dass die Zeichnung aus unzÀhligen kleinen Strichen besteht. Das erkennt man am besten, wenn man seine Augen in derselben Entfernung hat wie du beim Zeichnen.
GO: Richtig. Diese Technik des Zeichnens hat sich bei mir im Laufe der Zeit entwickelt. Ich bin vom Filzstift umgestiegen auf Aquarellfarbe aus der Tube, aufgetragen mit dem Pinsel, den ich in der Hand halte wie einen Stift. Der Filzstift und jetzt der feine Pinsel ergeben diesen besonderen Strich. Durch die AnhĂ€ufung von vielen Strichen oder Punkten entstehen diese besonderen Strukturen, ein differenziertes Zusammenspiel dieser feinen Linien, diese dem Fluss des Zeichnens entsprechenden Muster. Noch einmal die Zeichnung Baum (BlĂ€tter, BlĂŒten, Stengel): Von ganz nah kann man in den gezeichneten Strukturen auch die einzelnen BlĂ€tter, BlĂŒten und Ăstchen erkennen. Von der Ferne sind es abstrakte, nebeneinander stehende, farbige HĂŒgel, die das Bild ausmachen. Die Wahrnehmung hat zwei Möglichkeiten, nahsichtig und analytisch, aus einer gewissen Ferne entsteht die Distanz eines eher abstrakten und eigenstĂ€ndigen Bildes. Es sind zwei sehr unterschiedliche Welten, zwei Wahrnehmungsweisen der Natur, die beide zusammen Sinn machen.
WM: In der Zeichnung Schaf, 2014, prĂ€gen ebenfalls zwei Motive deine Sicht der Natur. Da ist einerseits die ausdrucksvolle Gestalt des Schafes, man könnte ein Portrait vermuten. Zugleich bildet sich in der Struktur der Zeichnung und in dem Körper des Tieres ein Gitter ab, wir assoziieren die Maschen des Drahtes eines Zauns. Mit dem lĂ€sst sich gleichermaĂen die Eingrenzung des Lebensraumes, das Gefangensein verbinden wie auch Schutz, die Hege und Pflege der Tiere. Kultur kommt von Kultivierung. Und das ist nicht nur Ă€uĂerlich, du hast es dem Körper des Schafes eingeschrieben, als Teil seiner Existenz.
GO: Das Schaf trĂ€gt die Struktur des Zaunes in sich. Ich finde das Tier hat es nicht einfach in unserer Gesellschaft. Es ist vielen Qualen ausgesetzt. Denken wir an die Massentierhaltung. In der Beziehungskonstellation zwischen Mensch, Tier und Natur zeigt sich immer wieder, dass der Mensch die Natur kontrollieren und beherrschen will. Und dabei gehen Respekt und Empathie verloren. Das fĂŒhrt zu MissverhĂ€ltnissen und Ausbeutungen. Eine VerĂ€nderung ist nur dann möglich, wenn sich die VerhĂ€ltnisse wieder verschieben und mehr Gleichgewicht entsteht. Es bedarf der VerĂ€nderung der Strukturen. Das Individuum sollte fĂŒr Mensch und Tier eine zentrale Rolle spielen, LebensqualitĂ€t fĂŒr die Tiere lĂ€sst uns die Natur und uns selbst so viel besser erleben. In Zeiten von groĂrĂ€umiger landwirtschaftlicher Nutzung und bestĂ€ndiger Gewinnmaximierung können Bilder subversiv werden, wenn sie Empathie fĂŒr Natur und Respekt gegenĂŒber den Lebewesen einfordern und gerade das Besondere zum Thema machen, das ich in der Natur sehe.
WM: Wenn sich eine KĂŒnstlerin wie du ganz wörtlich genommen ein Bild macht von Tieren und Pflanzen, dann entspricht die Form dem bildnerischen Denken. Die Auflösung in viele feine Striche, mittels derer sich eine zeichnerische Binnenstruktur aufbaut, formt dein Bild. Bei deiner Zeichnung Heuballen, 2014, in denen die Ernte des Grases verdichtet ist, muss ich an Claude Monets Heuschober aus dem spĂ€ten 19. Jahrhundert denken. Du konzentrierst dich allein auf dein Motiv und lĂ€sst einen landschaftlichen Kontext bewusst auĂen vor.
GO: Ja ich konzentriere mich auf das Wesentliche, auf die riesigen rollenden Heuballen. 2014 war ich lĂ€ngere Zeit in Frankreich, unter anderem in der Normandie, eine Kornkammer Frankreichs, unendliche Felder, mit riesigen Maschinen bearbeitet. Der Mensch kommt in dieser Landschaft kaum vor. In meinen Heuballen ist auch die Landschaft enthalten, sie rollen wie Lawinen auf den Betrachter zu und sind nicht mehr aufzuhalten. Rein zeichnerisch habe ich den Inhalt, die Struktur des getrockneten Grases monatelang akribisch mit der Tuschefeder in die groĂe Form eingeschrieben. Es ist mir sehr wichtig, dass die Motive in meinen Zeichnungen durch das Aufbringen von sehr viel Zeit zu BildgegenstĂ€nden werden und letztendlich viel mehr sind als zwei Heuballen, die im Herbst auf den Feldern liegen und darauf warten, von einer Riesenmaschine eingezogen zu werden.
WM: In der Ausstellung zeigen wir deine jĂŒngste Videoarbeit: Mr. Nobel, 2016 (vgl. S. 1âââ6). Da setzt du einem vom Alter und vom Rheuma gezeichneten Hund ein Denkmal. Er gehört zu den Wagenhallen in Stuttgart, wo sich auch dein Atelier befindet, geistert dort nachts umher, ohne Ziel, taucht auf und verschwindet aus deinem nĂ€chtlichen Bild. Du hast eine melancholische Stimmung eingefangen, den Blick in das nĂ€chtliche Geschehen an einem Ort, wo tagsĂŒber mehr als 80 KĂŒnstlerinnen und KĂŒnstler arbeiten, wo nachts Stille einkehrt oder die GerĂ€usche der Nacht zu hören sind, Langsamkeit Bedeutung gewinnt, wo Zeit keine Rolle spielt, umso mehr der alte Hund Mr. Nobel, der auftaucht, anwesend ist, im Dunkel verschwindet âŠ
GO: Die Aufnahme passierte ganz bewusst in der Nacht. Mr. Nobel lĂ€uft auch tagsĂŒber seine irrationalen Runden in den Wagenhallen. Mal ist viel Betrieb und manchmal sind die Hallen menschenleer. Es gibt besondere Tage: wenn es schneit oder Feiertage. Irgendwo, ganz unerwartet, steht Mr. Nobel und beobachtet oder tapst langsam seine Runden. Er hat, obwohl er sehr alt und zerbrechlich ist, eine unglaubliche PrĂ€senz. Er gehört dazu. Er prĂ€gt das Bild der Wagenhallen mit und irgendwann wird er uns fehlen. Um Mr. Nobels mysteriöse Erscheinung einzufangen, habe ich die Kameraaufnahmen in die Nacht verlegt. Es passiert nicht viel, Mr. Nobel tut, was er immer tut, er steht, lĂ€uft schwerfĂ€llig ein StĂŒck und verharrt wieder, schnuppert, scheint irgendetwas zu suchen, reagiert auf GerĂ€usche und begegnet seiner Freundin, einer weiĂen Katze. Er steht immer zentral im Bild. Er ist Hauptakteur in einer melancholischen Nacht.
Wenn nur noch bliebe, die Natur zu archivieren
Ein GesprÀch zwischen Gabriela Oberkofler und Werner Meyer
Werner Meyer: Das Zentrum der Ausstellung Schwarz ist die Nacht nie in der Kunsthalle Göppingen ist die Installation Weihnachtsbaumarchiv,(vgl. S. 8âââ10, 14, 17) ein partizipatorisches Bild, das von dem alljĂ€hrlichen Schicksal der WeihnachtsbĂ€ume handelt. Circa 60 BĂ€ume, alle in ZimmergröĂe geschnitten, stehen dicht gedrĂ€ngt in einem Holzgestell. Meist handelt es sich um die handelsĂŒblichen Nordtannen, auch andere TannenbĂ€ume sind darunter. Vereinzelt finden sich noch Spuren von dem Schmuck, mit dem die WeihnachtsbĂ€ume glanzvoll das Zentrum der familiĂ€ren Feierlichkeiten und Rituale um Jesu Geburt bildeten. Jetzt sind sie anonym, verlieren ihre Nadeln und lassen ihre VergĂ€nglichkeit spĂŒren. In dieser Anordnung wird deutlich, dass diese BĂ€ume, die noch vor kurzem mit so viel Liebe, Sorgfalt und Feierlichkeit ausgewĂ€hlt waren, fĂŒr eines der wichtigsten Feste der Christenheit das symbolische Zentrum zu sein, ausgedient haben. Andererseits sind diese wenigen exemplarischen TannenbĂ€ume vorlĂ€ufig âgerettetâ vor der ĂŒblichen sang- und klanglosen Entsorgung und haben die Chance, ihr Leben und ihre eigentlich besondere Geschichte anders zu beenden.
Gabriela Oberkofler: Ja, ich habe sie âgerettetâ vor der Bedeutungslosigkeit, auch wenn ich den Prozess des Naturverbrauchs nicht rĂŒckgĂ€ngig machen kann. Dieses melancholische Bild der manchmal riesigen Haufen ausgedienter WeihnachtsbĂ€ume, das sich mir jedes Jahr nach dem 6. Januar, nach Epiphanias, dem Fest der Ankunft der drei Weisen aus dem Morgenland, zeigt, ist ausschlaggebend fĂŒr meine Installation. Die entsorgten WeihnachtsbĂ€ume, die an diesen kalten, grauen Wintertagen am StraĂenrand landen, denen man schon von Weitem ansieht, dass sie ihre Glanzzeit hinter sich haben, wurden von mir mit einem Lastwagen abgeholt und in der Kunsthalle Göppingen wieder aufgestellt. Dank des HolzgerĂŒstes, das mir als Fassung dient, wurden die BĂ€ume wieder zu einem Wald, eigentlich zu einem Bild, das an die geordnete und effiziente landwirtschaftliche Aufforstung erinnert, dieses Warten der BĂ€ume in Reih und Glied auf ihre wesentliche Bestimmung, die ihnen nicht von der Natur, sondern von der Kultur der Menschen vorgegeben ist.
WM: Hier enden die BĂ€ume nicht in einem Schredder und werden zu Humus, sondern unsere Installation ist ein Archiv, in dem ihre Existenz im geordneten Bild aufgehoben ist â in zweifacher Weise: zunĂ€chst sind sie vom Boden aufgehoben und bewahrt worden, und dann erlebt ihre natĂŒrliche Gestalt als Baum eine Metamorphose, eine Apotheose in einem Zustand geordneter Auflösung âŠ
GO: ⊠eben in einem Archiv der WeihnachtsbĂ€ume. Erst steht der Wald als eine Fortsetzung des Landschaftsbildes wieder vor Augen. Dann, schön langsam, haben wir begonnen, in Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern der Kunsthalle Göppingen und den Besuchern der Ausstellung, Baum fĂŒr Baum zu zerlegen. Jeder Baum bekommt ein ihm zugehöriges Aufbewahrungssystem, einen groĂen Karton fĂŒr den ganzen Baum, darin kleinere Schachteln fĂŒr seine Teile. Durch das Zerlegen der BĂ€ume, durch das Aufbringen der vielen Zeit â eine Woche fĂŒr einen Baum â wird der Baum gewĂŒrdigt. Das Bild des Weihnachtsbaumes verschwindet und die Tradition löst sich auf. Sehr sorgfĂ€ltig und akribisch werden die einzelnen Bestandteile des Baumes nach den verschiedenen GröĂen der Ăste sortiert, die Nadeln und Samen sind abgetrennt und in wieder anderen Schachteln auf-bewahrt. Ein neues Bild, ein anderes Bild von den einzelnen BĂ€umen entsteht, das meiner Wahrnehmung dieser BĂ€ume in meinem Bild entspricht.
WM: Das Publikum ist aufgefordert, teil zu haben an diesem Verwandlungsprozess. Auf einem Tisch, gezimmert aus denselben Modulen wie das Gestell, liegen die Scheren, die man braucht, um selbst Hand anzulegen und die BĂ€ume bis in ihre kleinsten Elemente zu zerlegen und diese einzusortieren in die unterschiedlich groĂen Kartons, die mit ihrem Inhalt unsere Ausstellung ĂŒberdauern werden.
GO: FĂŒr meine kĂŒnstlerische Vorgehensweise bedeutet das Sortieren der Elemente intensive Zuwendung und Hingabe.Ich bin in einem Dorf in den SĂŒdtiroler Alpen aufgewachsen. Als ich Kind war, ging mein Vater mit mir und meinen Geschwistern in den Wald. Wir haben einen Baum ausgesucht, ihn gefĂ€llt und nach Hause gebracht. Das geht heute nicht mehr, denn dann wĂ€ren unsere WĂ€lder gerodet. Die Produktion von WeihnachtsbĂ€umen geschieht heute auf landwirtschaftlich industrielle Weise. Mit sehr viel energetischem und logistischem Aufwand werden pĂŒnktlich die WeihnachtsmĂ€rkte eröffnet, wo die BĂ€ume vermarktet werden. Die eigentliche Zeit der WeihnachtsbĂ€ume dauert gerade mal drei Wochen lang, zuerst im Rahmen der idyllischen WeihnachtsmĂ€rkte â in Göppingen âWaldweihnachtâ â , dann in der Weihnachtszeit in den Wohnzimmern der Familien, in der die Tannen mit all ihrem Schmuck ihre Bedeutung gewinnen und zum zentralen Bild werden, und dann ist die Zeit vorbei. Die BĂ€ume werden aus den Wohnzimmern wieder verbannt und entsorgt.
Dem wollte ich entgegenwirken. Diesen Kreislauf wollte ich unterbrechen! Stop! Alle BĂ€ume wieder rein! Diesmal in den Ausstellungsraum, dahin wo die Kunst unser Leben spiegelt. Der Wald ist fast wieder da! Leider geht das nicht so einfach. Die StĂ€mme sind abgeschnitten, die BrĂŒche bereits sichtbar.
WM: Als Kind hast Du ein in gewisser Weise naives und direktes und zunĂ€chst ungebrochenes VerhĂ€ltnis zur Natur entwickelt. Als KĂŒnstlerin lebst und arbeitest Du in der Stadt. Du stellst Bilder her, die unser kulturelles VerhĂ€ltnis zur Natur zum Thema haben. Die Kultivierung und der Verbrauch von Natur sind verbunden mit den Bildern, in denen wir romantische Idyllen und Utopien in die Natur projizieren und zugleich ĂŒbermĂ€chtig die BrĂŒche zwischen Natur und Kultur wahrnehmen. Es ist die StĂ€rke deiner Bilder, dass wir nochmals eine spĂŒrbare NĂ€he zu ihrem Gegenstand finden, um zugleich auch unmittelbar die Distanz zur Natur erkennen, wenn wir mit ihr umgehen.
GO: Als KĂŒnstlerin entwickle ich so etwas wie Empathie mit den GegenstĂ€nden und Motiven meiner Bilder. Da ist der Blick fĂŒr die Schönheit, fĂŒr das Eigene der Natur, zum Beispiel fĂŒr die Form, fĂŒr das Eigenleben, schlussendlich auch fĂŒr den Tod und Verfall eines Baumes und eines Waldes. Und da entwickelt sich auch der Sinn dafĂŒr, dass dies eben nicht (mehr) ein natĂŒrlicher Prozess ist, sondern mit Aneignung und Verwertung zu tun hat. Wir suchen und finden Natur zum Beispiel im Wald, in den BĂ€umen, und eigentlich suchen und finden wir ein romantisches Bild, das â reichlich verĂ€ndert â noch bis in die WeihnachtsmĂ€rkte und die VerkaufsstĂ€nde fĂŒr WeihnachtsbĂ€ume seine Bedeutung hat. Kein Baum reicht weiter in das stĂ€dtische und private, familiĂ€re Leben als der Tannenbaum und seine Metamorphose zum Weihnachtsbaum. Aber diese Geschichte wird vielleicht nicht weit genug erzĂ€hlt.
WM: In deinen Bildern finde ich immer wieder als Generalthema die Auflösung, die De-Konstruktion, die zu anderen Formen und damit zu anderen Bildern fĂŒhrt. Die groĂformatige Zeichnung Baum (BlĂ€tter, BlĂŒten, Stengel), 2014, (vgl. S. 59âââ61) scheint mir dies konsequent vor Augen zu fĂŒhren.
GO: Ich bin sehr traditionell aufgewachsen in gelebter SĂŒdtiroler Kultur. Es ist so wohltuend und fĂŒr mich nicht zerstörerisch, das Motiv einmal rundherum komplett auseinander zu nehmen. Baum (BlĂ€tter, BlĂŒten, Stengel) ist ein schönes Beispiel. Nur so kann fĂŒr mich ein mögliches Verstehen stattfinden. Ich höre es fast in meinen Gedanken rascheln, das Nachvollziehen einer VerĂ€nderung ist fast körperlich möglich. In meinem Kopf ist es immer noch ein Baum (ich sehe ihn im Wald), der im Laufe des Prozesses zu etwas anderem geworden ist. Zu etwas, das den Wandel unserer Zeit miterlebt hat. Es ist der Umgang mit Natur in einer zivilisierten Welt, in der nicht nur der Mythos von der Natur als solcher, sondern Wissen und Nutzbarmachen den Sinn fĂŒr die Natur bestimmen.
WM: Noch nĂ€her kommt deinem Weihnachtsbaumarchiv meines Erachtens die Zeichnung Latschenkiefer,2015 (vgl. S. 49âââ53). Dabei hat dich ganz offensichtlich die klassische Tradition der botanischen Zeichnung inspiriert. Gleichzeitig hast du der Latschenkiefer als ganz besonderem Baum deiner Heimat ein Denkmal gesetzt.
GO: Die Latschenkiefer als strauchförmigen Baum habe ich in den Sarntaler Alpen entdeckt. Unterhalb der Baumgrenze wĂ€chst diese Latschenkiefer in groĂen Mengen eingebunden in eine Stein- und Flechtenlandschaft. Es entsteht ein Gesamtbild, das mich auch hinsichtlich der Farben sehr beeindruckt hat: DunkelgrĂŒn, NeongrĂŒn, Grau, Schwarz und kleinere rote Punkte, bei schönem Wetter noch das Blau des Himmels. Dieser Baum ist klein und wĂ€chst geduckt am Boden. Alle seine Teile sind wertvoll. So dient das Holz der Ăste der Herstellung des sehr begehrten Latschenkieferöls, das in der Medizin und Kosmetik Verwendung findet. Mich hat diese Pflanze auch interessiert wegen ihres ungewöhnlichen Standortes, an der Baumgrenze, 1.800 m bis 2.500 m ĂŒber dem Meeresspiegel, auf vulkanischem Boden. Ausgehend von botanischen, frĂŒhen naturwisssenschaftlichen Zeichnungen (z.B. denen der Maria Sybilla Merian) zerlege ich die Pflanze aus meiner Sicht nicht nur in ihre Bestandteile, sondern auch in ihre Elemente zu unterschiedlichen Jahreszeiten und in unterschiedliche Wachstumsstadien.
Die Zapfen kommen in meiner Zeichnung sehr oft vor. Als weibliche oder mĂ€nnliche BlĂŒten, als grĂŒne oder gelbe Sprösslinge, als rot gereifte Zapfen, als Samen. In ihre Bestandteile zerlegt erscheinen sie wie kleine rote Schuppen, wie grĂŒne Punkte. Ich zeichne sie im Querschnitt und in Symbiose mit Flechten. Rote Schuppen mit schwarzen Punkten oder grĂŒne lĂ€ngsförmige, Millimeter groĂe oder gelbe Gebilde mit rosa Inhalt. Das Gleiche interessiert mich an den Nadeln, den Ăsten usw. Es eröffnet sich ein unerschöpflicher Kosmos, der die Schönheit und Besonderheit dieser Heilpflanze aufscheinen lĂ€sst.
Gleichzeitig zeigt die Zeichnung auch den Kreislauf von Verwertbarkeit und Nutzen einer Pflanze. Das Herstellen des Ăles ist ein langwieriger Prozess, der zwangslĂ€ufig das Roden und ZerstĂŒckeln der Pflanze mit sich bringt. Ein Wildwuchs ohne Rodung ist auch in den abgelegenen Sarntaler Alpen nicht möglich.
WM: Wenn man nahe genug an deine Zeichnungen herantritt, am besten so nahe wie du ihnen bist, wenn du zeichnest, dann erkennt man, wie bei dir die Motive aus einer Vielzahl von kleinen autonomen Strichen und Mustern entstehen. Was aus der Ferne fast impressionistisch naturnah aussieht, entpuppt sich aus der NÀhe als ein Prozess der Abstraktion, der davon ausgeht, dass die Zeichnung aus unzÀhligen kleinen Strichen besteht. Das erkennt man am besten, wenn man seine Augen in derselben Entfernung hat wie du beim Zeichnen.
GO: Richtig. Diese Technik des Zeichnens hat sich bei mir im Laufe der Zeit entwickelt. Ich bin vom Filzstift umgestiegen auf Aquarellfarbe aus der Tube, aufgetragen mit dem Pinsel, den ich in der Hand halte wie einen Stift. Der Filzstift und jetzt der feine Pinsel ergeben diesen besonderen Strich. Durch die AnhĂ€ufung von vielen Strichen oder Punkten entstehen diese besonderen Strukturen, ein differenziertes Zusammenspiel dieser feinen Linien, diese dem Fluss des Zeichnens entsprechenden Muster. Noch einmal die Zeichnung Baum (BlĂ€tter, BlĂŒten, Stengel): Von ganz nah kann man in den gezeichneten Strukturen auch die einzelnen BlĂ€tter, BlĂŒten und Ăstchen erkennen. Von der Ferne sind es abstrakte, nebeneinander stehende, farbige HĂŒgel, die das Bild ausmachen. Die Wahrnehmung hat zwei Möglichkeiten, nahsichtig und analytisch, aus einer gewissen Ferne entsteht die Distanz eines eher abstrakten und eigenstĂ€ndigen Bildes. Es sind zwei sehr unterschiedliche Welten, zwei Wahrnehmungsweisen der Natur, die beide zusammen Sinn machen.
WM: In der Zeichnung Schaf, 2014, prĂ€gen ebenfalls zwei Motive deine Sicht der Natur. Da ist einerseits die ausdrucksvolle Gestalt des Schafes, man könnte ein Portrait vermuten. Zugleich bildet sich in der Struktur der Zeichnung und in dem Körper des Tieres ein Gitter ab, wir assoziieren die Maschen des Drahtes eines Zauns. Mit dem lĂ€sst sich gleichermaĂen die Eingrenzung des Lebensraumes, das Gefangensein verbinden wie auch Schutz, die Hege und Pflege der Tiere. Kultur kommt von Kultivierung. Und das ist nicht nur Ă€uĂerlich, du hast es dem Körper des Schafes eingeschrieben, als Teil seiner Existenz.
GO: Das Schaf trĂ€gt die Struktur des Zaunes in sich. Ich finde das Tier hat es nicht einfach in unserer Gesellschaft. Es ist vielen Qualen ausgesetzt. Denken wir an die Massentierhaltung. In der Beziehungskonstellation zwischen Mensch, Tier und Natur zeigt sich immer wieder, dass der Mensch die Natur kontrollieren und beherrschen will. Und dabei gehen Respekt und Empathie verloren. Das fĂŒhrt zu MissverhĂ€ltnissen und Ausbeutungen. Eine VerĂ€nderung ist nur dann möglich, wenn sich die VerhĂ€ltnisse wieder verschieben und mehr Gleichgewicht entsteht. Es bedarf der VerĂ€nderung der Strukturen. Das Individuum sollte fĂŒr Mensch und Tier eine zentrale Rolle spielen, LebensqualitĂ€t fĂŒr die Tiere lĂ€sst uns die Natur und uns selbst so viel besser erleben. In Zeiten von groĂrĂ€umiger landwirtschaftlicher Nutzung und bestĂ€ndiger Gewinnmaximierung können Bilder subversiv werden, wenn sie Empathie fĂŒr Natur und Respekt gegenĂŒber den Lebewesen einfordern und gerade das Besondere zum Thema machen, das ich in der Natur sehe.
WM: Wenn sich eine KĂŒnstlerin wie du ganz wörtlich genommen ein Bild macht von Tieren und Pflanzen, dann entspricht die Form dem bildnerischen Denken. Die Auflösung in viele feine Striche, mittels derer sich eine zeichnerische Binnenstruktur aufbaut, formt dein Bild. Bei deiner Zeichnung Heuballen, 2014, in denen die Ernte des Grases verdichtet ist, muss ich an Claude Monets Heuschober aus dem spĂ€ten 19. Jahrhundert denken. Du konzentrierst dich allein auf dein Motiv und lĂ€sst einen landschaftlichen Kontext bewusst auĂen vor.
GO: Ja ich konzentriere mich auf das Wesentliche, auf die riesigen rollenden Heuballen. 2014 war ich lĂ€ngere Zeit in Frankreich, unter anderem in der Normandie, eine Kornkammer Frankreichs, unendliche Felder, mit riesigen Maschinen bearbeitet. Der Mensch kommt in dieser Landschaft kaum vor. In meinen Heuballen ist auch die Landschaft enthalten, sie rollen wie Lawinen auf den Betrachter zu und sind nicht mehr aufzuhalten. Rein zeichnerisch habe ich den Inhalt, die Struktur des getrockneten Grases monatelang akribisch mit der Tuschefeder in die groĂe Form eingeschrieben. Es ist mir sehr wichtig, dass die Motive in meinen Zeichnungen durch das Aufbringen von sehr viel Zeit zu BildgegenstĂ€nden werden und letztendlich viel mehr sind als zwei Heuballen, die im Herbst auf den Feldern liegen und darauf warten, von einer Riesenmaschine eingezogen zu werden.
WM: In der Ausstellung zeigen wir deine jĂŒngste Videoarbeit: Mr. Nobel, 2016 (vgl. S. 1âââ6). Da setzt du einem vom Alter und vom Rheuma gezeichneten Hund ein Denkmal. Er gehört zu den Wagenhallen in Stuttgart, wo sich auch dein Atelier befindet, geistert dort nachts umher, ohne Ziel, taucht auf und verschwindet aus deinem nĂ€chtlichen Bild. Du hast eine melancholische Stimmung eingefangen, den Blick in das nĂ€chtliche Geschehen an einem Ort, wo tagsĂŒber mehr als 80 KĂŒnstlerinnen und KĂŒnstler arbeiten, wo nachts Stille einkehrt oder die GerĂ€usche der Nacht zu hören sind, Langsamkeit Bedeutung gewinnt, wo Zeit keine Rolle spielt, umso mehr der alte Hund Mr. Nobel, der auftaucht, anwesend ist, im Dunkel verschwindet âŠ
GO: Die Aufnahme passierte ganz bewusst in der Nacht. Mr. Nobel lĂ€uft auch tagsĂŒber seine irrationalen Runden in den Wagenhallen. Mal ist viel Betrieb und manchmal sind die Hallen menschenleer. Es gibt besondere Tage: wenn es schneit oder Feiertage. Irgendwo, ganz unerwartet, steht Mr. Nobel und beobachtet oder tapst langsam seine Runden. Er hat, obwohl er sehr alt und zerbrechlich ist, eine unglaubliche PrĂ€senz. Er gehört dazu. Er prĂ€gt das Bild der Wagenhallen mit und irgendwann wird er uns fehlen. Um Mr. Nobels mysteriöse Erscheinung einzufangen, habe ich die Kameraaufnahmen in die Nacht verlegt. Es passiert nicht viel, Mr. Nobel tut, was er immer tut, er steht, lĂ€uft schwerfĂ€llig ein StĂŒck und verharrt wieder, schnuppert, scheint irgendetwas zu suchen, reagiert auf GerĂ€usche und begegnet seiner Freundin, einer weiĂen Katze. Er steht immer zentral im Bild. Er ist Hauptakteur in einer melancholischen Nacht.