Jenseits von Jenesien
Michael Hübl

Eine junge Frau, hoch zu Ross. Aufrecht, stolz. Ihre Haltung lässt an Jeanne d’Arc denken. Störend nur, dass die Reiterin statt einer Lanze oder einer Hellebarde eine Heugabel mit sich führt. Die allerdings wird mit einem Gestus gehalten, als sei sie, die Frau, tatsächlich aufgebrochen, um ihr Land zu verteidigen, oder wenigstens ihr Hab und Gut. Weitere Assoziationen drängen ins Bild. Das lang herabwallende Haupthaar könnte eine Anspielung auf die legendäre Lady Godiva sein, die auf ihrem Pferd durch das mittelalterliche Coventry zog und damit erreichte, dass ihr Mann die allgemeine Steuerlast senkte. Doch die Lady war nackt, während die Frau, die da vor alpiner Kulisse im Sattel sitzt, angetan ist mit weißer Bluse, rosa Schürze und dunklem, geblümtem Dirndl, unter dem sich ein kostbar gesäumtes weißes Unterkleid hervorschiebt. Augenscheinlich trägt sie eine Tracht, wie sie im deutschsprachigen Alpenraum zur Ausstattung von Bäuerinnen und Bürgerinnen gehört. Und wieder bieten sich historische Bezugspunkte an: Der wehrhafte Habitus der Reiterin und die Bergkulisse, die hinter ihr zu sehen ist, lassen an den Tiroler Freiheitskampf der Epoche Napoleons denken und an Andreas Hofer, den Anführer der Aufständischen, der nach seiner standrechtlichen Erschießung am 20. Februar 1810 zu einer fast schon mythischen Figur geworden ist.

Aus all diesen möglichen Bedeutungsfacetten ergibt sich ein Problem: Sie stimmen irgendwie und doch auch nicht. Dieser Befund kennzeichnet zugleich die Grunddisposition der Arbeiten von Gabriela Oberkofler. Sie ist die Frau, die sich auf dem Rücken eines Haflingers in standbildhafter Pose hat fotografieren lassen und damit exemplarisch vor Augen führt, wie sie Diskrepanzen aufspürt und thematisiert. Oberkofler aktiviert Momente des Unstimmigen. Sie veranschaulicht die trügerischen Interferenzen zwischen Wunschbild und Wirklichkeit, befasst sich mit den Überlagerungen zwischen instrumentalisierter Romantik und desillusionierender Realität, wie sie nicht zuletzt Südtirol, das Land ihrer Herkunft, kennzeichnen – auch auf dem Foto mit dem fuchsfarbenen Pferd. Die Aufnahme entstand auf dem Salten, einem Hochplateau, auf dem der Ort liegt, in dem Oberkofler aufgewachsen ist. Man könnte ihn Bergdorf nennen, aber welche Vorstellungen haften an diesem Begriff? Ländliche Ruhe, idyllische Unberührtheit? Satte Matten, glückliches Vieh? Seit 1937 ist Jenesien durch die Funivia S. Genesio mit Bozen verbunden, und spätestens von da an ist aus dem abgelegenen Dorf der Vorort einer Großstadt geworden, analog zu der Entwicklung, die sich unten im Tal vollzog: Dort wurde in eben den Jahren, als man die Seilbahn auf den Salten baute, der alte Handelsplatz Bozen im Zuge der faschistischen Italianisierungspolitik in einen Industriestandort umgewandelt. Vorwiegend Maschinenbau und Metallverarbeitung erhielten im Grande Bolzano d’Italia Produktionsstätten – „das Novum in der Südtiroler Wirtschaft, welches deren Schwergewicht von den traditionellen Sektoren in die modernen italienischen Betriebe verlagern und nach Italien ausrichten sollte“1.

Vor diesem Hintergrund wirkt die Fotoarbeit, die Gabriela Oberkofler zu Pferde zeigt, als sei die Zeit stehen geblieben. Zugleich ist unübersehbar, dass hier kein Dokument aus einer fernen Epoche vorliegt, denn allein die brillante Farbqualität deutet auf das fortgeschrittene 20., frühe 21. Jahrhundert. Die Spannung zwischen Tradition und Moderne manifestiert sich hier nicht durch Requisiten oder anderes Beiwerk, sondern durch das Medium Fotografie. Tracht und Landschaft sehen aus, als seien sie von der geschichtlichen Entwicklung unberührt geblieben, Art und Qualität der Aufnahme hingegen signalisieren, dass es sich bei dem Bild um ein High-Tech-Erzeugnis handelt. Dank der Perfektion, mit der es realisiert wurde, wäre es allemal brauchbar für die Werbe-Aktivitäten der Tourismusbranche. Die aber ist wiederum ein Produkt der Industrialisierung und somit fester Bestandteil jenes spannungsvollen Zusammenhangs zwischen dem technischen-materiellen Fortschritt mit seinen Normierungen, Regulierungen und Rationalisierungen einerseits und der Sehnsucht nach einem vermeintlich heilen Ur- und Naturzustand andererseits.

In diesem Zusammenhang ist zwar generell auch das Werk von Gabriela Oberkofler zu begreifen. Aber es lässt sich nicht einfach auf einen Kontrast zwischen Gestern und Heute, Tradition oder Moderne reduzieren. Gerade an der Fotoinszenierung Salten / Dolomiten (2008) ist zu erkennen, dass Oberkofler in ihren Arbeiten einen höheren Grad an Komplexität anpeilt, als es vordergründig den Anschein haben mag. Denn allen historischen Assoziationen und folkloristischen Accessoires zum Trotz bezieht sich das Setting, das die Künstlerin gewählt hat, zunächst nicht auf die Geschichte oder die gesellschaftliche Umstrukturierung Tirols, sondern auf eine Position aus dem zeitgenössischen Kunstkontext. Oberkofler paraphrasiert das Video The Hero (2001), in dem ihre 1946 in Belgrad geborenen Kollegin Marina Abramović die eigene Familiengeschichte mit der Tragödie des Zerfalls Jugoslawiens überlagert. Man sieht dort Abramović in pazifistischer Amazonenpose: Auf einem Schimmel sitzend  schwenkt sie eine weiße Fahne, dazu singt sie die Nationalhymne des sozialistischen Bundesstaats.

In Abramovićs Selbstdarstellung überlagern sich Reflexe privater Erfahrungen mit Reaktionen auf die Marschrouten der Politik. Zu Beginn der 1990er-Jahre stellte die Künstlerin fest, dass sie die Notwendigkeit empfand, ihr Leben und ihre Arbeit „in einem autobiographischen Rahmen zu präsentieren“ 2. In The Hero verknüpfte sie nun mit ungewöhnlicher zeithistorischer Vielschichtigkeit die Schrecken ihrer eigenen Kindheit mit dem Erschrecken über die aktuelle Gegenwart des späten 20. Jahrhunderts, an dessen Ende noch einmal jene Gewaltexzesse aufflackerten, die seinen Anfang markiert hatten und von denen allgemein angenommen worden war, nach dem Terror zweier Weltkriege seien sie für immer überwunden. Abramovićs Eltern waren als Partisanen aktiv in diese Kämpfe verwickelt. Ihre militärisch geprägte Lebensform schlug später offenbar auf die Erziehung der Tochter zurück. Jetzt, als reife Frau, wenige Jahre vor ihrem 50. Geburtstag, sah sich ebendiese Marina Abramović mit dem Paradox konfrontiert, den Zusammenbruch eines Gemeinwesens beklagen zu müssen, das ihre Mutter und ihr Vater als ranghohe Funktionäre mit aufgebaut hatten – zwei Menschen, die sie in ihrer Kindheit und Jugend als brutale Peiniger erlebt hatte3.

Man muss diese Geschichte kennen, um Salten / Dolomiten und überhaupt die Arbeiten von Gabriela Oberkofler verstehen zu können. Es heißt über sie: „Ohne Frage hat die Auseinandersetzung mit Heimat für Gabriela Oberkoflers Werkgenese eine zentrale Bedeutung“4. Und tatsächlich mangelt esnicht an Hinweisen auf Südtirol, die Region, in der die Künstlerin aufgewachsen ist. Nicht nur im Sattel eines Haflingers, auch mit den Motiven ihrer Zeichnungen, Installationen oder Performances erinnert sie an ihre Herkunft. Da sind etwa die Geranien. Der beliebte Blumenschmuck, wie er in den Straßen zwischen Bozen und Brenner, Schlanders und Sexten immer wieder anzutreffen ist, wird zum Gegenstand von Zeichnungen, ziert die Rekonstruktion eines  Balkons und prangt sogar im Zentrum eines Ausstellungskonzepts: „Die Geranie soll eine wichtige Rolle spielen“5 nannte Oberkofler eine Schau in der Kunsthalle Ravensburg. Ähnlich war die Künstlerin bei ihrer Arbeit Ahnengalerie. Hirsch, Reh, Ziege, Kuh (2008) vorgegangen. Dort kombinierte sie Zeichnungen, zu denen eine verstaubte und vergessene Kiste mit Schwarzweiß-Fotografien auf dem Dachboden ihres Elternhauses den Anstoß geliefert hatte, mit Jagdtrophäen und ausgestopften Tieren – auch das Elemente, wie sie gerne mit der traditionellen Volkskultur Tirols in Verbindung gebracht werden.

Bei allen offenkundigen und nachgerade liebevoll-zärtlichen Rückgriffen auf Brauchtum und kulturelle Überlieferung ist da immer auch eine andere, schmerzhafte Seite. Oberkofler ergeht sich nicht in naiver Nostalgie. Allein die unterschwellige Anspielung auf Werk und Vita der in Jugoslawien sozialisierten, seit Mitte der 1970er-Jahre international agierenden Avantgardistin Abramović steckt voller Brisanz. Indem Oberkofler in Salten / Dolomiten  Abramovićs heldische Pose aus The Hero übernimmt, rückt sie das Bild einer rundum harmonischen alpenländischen Kultur und Lebensweise in unmittelbare Nähe eines seit Jahrhunderten schwelenden Konfliktherdes. Südtirol wird gleichsam balkanisiert, wobei hier der Balkan als Synonym gelten soll für die unterdrückten, verdrängten oder totgeschwiegenen, nicht selten ungeklärten ethnisch-politischen Brennpunkte Europas, an denen kleinere Volksgruppen mit übergeordneten nationalen oder nationalistischen Interessen kollidieren. Diese Regionen können zu Zonen akuter Gewaltakte werden – siehe etwa Nordirland oder die Konflikte zwischen Serbien und dem Kosovo. Oder sie stellen sich, Stand Frühjahr 2013, als Gebiete dar, in denen die komplexe Gemengelage unterschiedlicher Gegensätze und Leiderfahrungen zu einer Art Balance und Befriedung gelangt ist – siehe etwa das Elsass oder Südtirol.

Beide haben in der jüngeren Geschichte teilweise die gleichen Traumata durchlitten. Denn dort, wo Elsässer oder Tiroler sich selbst als deutsch definierten, fanden sie  sich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten (nicht selten durch freiwilliges Zutun6) unter dem Einfluss eines Regimes, das den Status der so genannten Volksdeutschen nutzte, um die Reihen der eigenen Armeen mit neuen Soldaten aufzufüllen. Eine von Gabriela Oberkoflers Zeichnungen hat diese Rekrutierungen und deren bitteren Folgen zum Hintergrund. Ausgehend von einer alten fotografischen Aufnahme gibt sie das Bildnis eines gepflegten, wohl noch jungen Mannes wieder, der zu Lebzeiten gewiss als fesch galt: leicht welliges, nach hinten gebürstetes Haar, ein sorgsam in Façon gehaltener Moustache. Der Porträtierte war ein Großonkel der Künstlerin. Einer, der den Krieg überlebte. Freilich nur, weil er einem Identitätstausch zugestimmt hatte. Es bestand damals, als das nationalsozialistische Deutsche Reich und das faschistische Italien um den Status der Südtiroler rangen, eine Regelung, die besagte, dass der Erstgeborene einer Bauernfamilie nicht zum Militär eingezogen werden sollte; so wollte man sicherstellen, dass sich der landwirtschaftliche Betrieb aufrecht erhalten lässt. Aber der älteste Sohn vom Kreuzwegerhof war nicht sonderlich robust.  Anders sein jüngerer Bruder: Der brachte schon eher die Eigenschaften mit, die es braucht, um eine Landwirtschaft zu führen. Also tritt er –  ein g‘standenes Mannsbild, wie wahrscheinlich manche im Dorf dachten – an die Stelle des Erstgeborenen. Der seinerseits wird zur Wehrmacht eingezogen, gerät in russische Gefangenschaft und kehrt nie wieder zurück.

Doch zuvor, bevor seine Spur erlischt, schickt er aus Sibirien Laubsägearbeiten nach Hause. Filigranes Handwerk mit Vogelmotiven und gotisierendem Zierrat. Seitenwände, Boden und Deckel ergeben ein feines Kistchen, in dem die Schwester des Vermissten über die Jahre hinweg Totenzettel aufbewahrt – Sterbebildchen nennen sie die Südtiroler. Gabriela Oberkofler hat diese (von Historikern als Quellen der Alltagsgeschichtsforschung geschätzten) Gedenkblättchen gelegentlich in ihre Installationen integriert, und auch die sibirische Schatulle gehört zum Fundus der Objekte, auf die sie bei Ausstellungen zurückgreift. Die Erinnerungsstücke weisen wie Zeitpfeile in die Vergangenheit, von wo so vieles von dem kommt, das der Künstlerin nahe steht und ihr wertvoll ist, und wo etliches lauert, was seine Schatten bis in die Gegenwart wirft. Die Idylle trügt vielleicht gar nicht, sie ist nur in sich ambivalent: Wo die Unschuld betont wird, ist die Schuld schon immer mitgedacht. Diese Ambivalenz, diese Verquickung von gesellschaftlichen, ökonomischen oder technologischen Faktoren und den Entscheidungen, die sie den Menschen aufnötigen, das moralische Dilemma, in das sie dadurch gestürzt werden – all das bildet einen wichtigen thematischen Strang im Œuvre von Gabriela Oberkofler. Sie enthält sich jeder Einseitigkeit, jeder vorschnellen Parteinahme. Sie setzt mit ihrer Kunst auf das, was den Anfang aller Philosophie ausmacht. Ihr Vorgehen entspricht einem grundlegenden Staunen, wie es sich in der Frage artikulieren könnte: Wenn es um das Überleben einer Familie geht, kommt es den Betroffenen dann als ein Akt der Normalität vor, die genealogische Reihenfolge aus reinen Nützlichkeitserwägungen zu ändern und den natürlichen Erben in den Krieg zu schicken, weil der nachgeborene Bruder offenbar besser taugt, das zu bewältigen, was auf einem Hof zu bewältigen ist?

Solche, aus der Not geborenen Handlungsmuster sind dem abendländischen und zumal dem deutschen Kulturkreis weit weniger fremd, als es zunächst aussieht. Die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm haben in ihren 1812 erstmals veröffentlichten „Kinder- und Hausmärchen“ nicht wenige Episoden versammelt, in denen die dort geschilderten Grausamkeiten ihren Ursprung in existenziellen Grenzsituationen haben. Das in dieser Hinsicht bekannteste Beispiel dürfte die Geschichte von Hänsel und Gretel 7 sein. Die Grunddisposition des Märchens ergibt sich aus einer Hungersnot. Der Mangel veranlasst die Mutter (ab der 5. Auflage von 1843 die Stiefmutter8) des Geschwisterpaars zu dem ebenso rationalen wie herzlosen Schritt, ihre beiden Kinder im Wald auszusetzen; der Vater betätigt sich dabei als willensschwacher Helfershelfer. Als Gabriela Oberkofler 2009 im Hospitalhof Stuttgart ausstellte9, bezog sie sich explizit auf ein Märchen der Brüder Grimm. Blut im Schuh nannte sie ihre Werkauswahl. Die drei Worte spielten ebenso auf die Erzählung vom Aschenputtel 10 an wie die drei weißen Tauben, die Oberkofler in eine großzügig bemessene Voliere gesetzt hatte, damit sie den Schlussakzent ihrer Installation Veilchen, Rose und Vergissmeinnicht (2009) bildeten. Das Märchen von der gedemütigten jungen Frau, die ein Prinz aus ihrem Aschendasein herausholt, wird zwar nicht durch eine extreme Notlage beherrscht; es geht um sozialen Aufstieg und um eine ins Volkstümliche gekehrte Variante der Verheißungen, wie sie das Neue Testament für die Armen und Entrechteten parat hält, wenn es etwa im Lukas-Evangelium geschrieben steht: „ Selig seid ihr, die ihr jetzt hungert; denn ihr sollt satt werden. Selig seid ihr, die ihr jetzt weint; denn ihr werdet lachen“11. Nicht zuletzt aber erweist sich das Märchen als Parabel dafür, wozu Menschen fähig sind, sobald es um den eigenen Vorteil geht. Rührt doch das Blut im Schuh von den rücksichtslosen Selbstverstümmelungen, die sich die beiden Stiefschwestern Aschenputtels zufügen, nur um den Rang einer Prinzgemahlin zu erlangen.

Oberkofler ist auf diese Handlung in ihrer Stuttgarter Installation nirgends eingegangen, und schon gar nicht hat sie versucht, in die Nachfolge von Ludwig Emil Grimm zu treten, der bereits 1825 einen Kupferstich zu der von seinen Brüdern publizierten Geschichte schuf. Von Illustrierung kann bei Gabriela Oberkofler keine Rede sein. Die einzigen direkten Hinweise auf die vielfach abgewandelte, zwischen Küchenschmutz und Schlossherrlichkeit angesiedelte Erzählung liefern der Titel und die Tauben. Doch selbst da vermeidet die Künstlerin eine zu starke Annäherung an die literarische Schilderung: Der gurrende Spruch der Vögel ist verkürzt (der Originaltext lautet „Blut ist im Schuck“), ihre Anzahl wurde erhöht (bei den Grimms sind es nur zwei statt der drei Tauben, die Oberkofler in ihre Arbeit integrierte).

Das Taubenmotiv, auf das die Künstlerin rekurriert, wird bei ihr in einem zweifachen Sinn ambivalent. Zum einen in Hinblick auf die Modifikationen, die von den Herausgebern der „Kinder- und Hausmärchen“ im Lauf der Editionsgeschichte vorgenommen wurden. In der Erstausgabe sind die Tiere einen Moment lang Opfer, denn in ihrem eitlen Jähzorn zerstören die Schwestern den Taubenschlag, von dem aus Aschenputtel das Fest im Palast beobachtet hat. Bereits in der 2. Auflage von 1819 fehlt diese Szene, dafür ist ein neuer Schluss angefügt, in welchem die Tauben zu Tätern werden, weil sie jetzt als strafende Instanz in Aktion treten: Sie picken den hochmütigen Stiefschwestern die Augen aus. Zum anderen kommt bei Oberkofler als weitere Doppeldeutigkeit der zweifelhafte Ruf hinzu, der den Vögeln aus der Familie der Columbidae  heute in den westlichen Zivilisationen anhängt. Als Märchenwesen oder Friedenssymbol beliebt, werden sie ansonsten von großen Kreisen der Bevölkerung als „Ratten der Lüfte“12 geschmäht und als „kommunalhygienisches Problem“13 aufgefasst. Oberkofler, so stellt die Kunstwissenschaftlerin Annett Reckert fest, widmet sich „einer im höchsten Maße stigmatisierten Gattung, die ihrer Wurzeln entfremdet wurde, deren legendäres Bindungs- und Heimfindungsvermögen ihnen vielmehr zum Verhängnis geworden ist“14. Das zwiespältige und allemal vertrackte Verhältnis der modernen Konsumgesellschaft zur Natur beschäftigt die Künstlerin nicht nur in ihrer Installation Veilchen, Rose und Vergissmeinnicht – es kehrt schon deshalb in großen Teilen ihres Gesamtwerks wieder, weil im gegenwärtigen Umgang mit den natürlichen Gegebenheiten viele der Fragen fokussieren, die Oberkofler generell umtreiben. Darunter die Frage: Wie weit kann Veränderung gehen, ohne dass sie in irreversible Beschädigung umschlägt und sie das, was sie veränderte, zerstört?

Gabriela Oberkofler hat hierzu ein bemerkenswertes Experiment durchgeführt. Während eines Stipendienaufenthalts in Valence kaufte die Künstlerin in einem Baumarkt (französische Baumärkte halten ein reiches Sortiment an Vögeln vor) einen kleinen Käfig mit einer Turteltaube; sie sollte die Hauptakteurin ihrer Arbeit „la tourterelle“ (2010) werden. Oberkofler transportierte das Tier in ihr Atelier, wo sie ihm bereits ein naturnahes, man könnte sagen: ökologisch einwandfreies Domizil vorbereitet hatte – ein luftiges Vogelhaus aus Zweigen und Ästchen, die an den Kreuzungspunkten mit Bindfaden fixiert waren. Die Taube erwarteten noch weitere Wohltaten. Sie wurde mitsamt ihrem fragilen Bauer ins Auto verfrachtet und in ein Waldstück gefahren. Dort sollte sie ihre Freiheit wiedererlangen. Und siehe da: Die Turteltaube, die bislang still geblieben war, öffnete den Schnabel und begann ihren gurrenden Gesang. Aber sie flog nicht. Rührte sich partout nicht aus ihrem Gehäuse.

Oberkofler hat diesen Ausflug, aus dem kein Flug erwuchs, mit der Videokamera festgehalten. Das Tier hat sie zuerst wieder ins Atelier und nachher zurück in den Baumarkt gebracht. Das Vorhaben, ein Wesen dem zivilisationsbedingten Zwang zu entziehen, dem es ausgesetzt war, war gescheitert. Stattdessen entstand ein Lehrstück darüber, dass die anthropogenen Veränderungen an der Natur nicht ohne weiteres, sozusagen auf Befehl oder per Knopfdruck zu revidieren sind. Welche Spannweite der Begriff Natur aktuell umfasst, verdeutlichte Oberkofler wie nebenbei, indem sie ihre wackelige Taubenbauerkonstruktion aus Astwerk auf Obst- und Gemüsekisten stellte, an denen in ihrer Heimatregion Südtirol, wo allein an Äpfeln über eine Million Tonnen jährlich produziert werden, besonderer Bedarf herrscht. Beides – Kisten und Käfig – besteht aus dem Naturmaterial Holz. Und doch sind die Unterschiede eklatant zwischen den dünnen, getackerten und bedruckten Brettchen unten und dem Geflecht aus Ästen und Zweigen oben.

Die Problematik, die Oberkofler mit Hinblick auf die Natur veranschaulicht, dehnt sie thematisch auch auf die sozialen und kulturellen Verhältnisse der Gegenwart aus. Für eine Ausstellung im Museion Bozen/Bolzano15 hat sie Glockengeschoss und Helm des Kirchturms von St. Genesius als rundum schwarzes, fensterloses Objekt nachgebaut – wie ein dreidimensionaler Schatten der Pfarrkirche Jenesiens, dem Dorf, in dem Oberkofler aufwuchs. Das dunkle Gebilde stand allerdings etwas windschief im Project Room des Kunstmuseums. Der Turm war um 4,5 Grad geneigt, eine Schrägstellung, die Ausdruck einer Irritation war und hinter der sich eine fundamentale Frage verbarg: „Der Kirchturm kippt – darf das bei etwas sein, das immer in der Mitte war, immer die Mitte bildete?“16. Mit anderen Worten: Was passiert, wenn eine über Generationen hinweg funktionierende, seit Jahrhunderten gewohnte Ordnung aus dem Lot gerät? Wenn sie nach und nach nichts mehr gilt?

„Ist die Auflösung schon das Neue?“17 fragt Oberkofler in Fortsetzung dieser Überlegungen. Sie selbst antwortet weder mit  Ja noch mit Nein. Schwarzweiß-Malerei ist ihre Sache nicht, schon eher das Zeichnen mit Schwarz und Rot. Diese Farbkombination fungiert gewissermaßen als Generalbass für ihr grafisches Werk. Wohl verwendet sie bei ihren mit Filzstift gezeichneten Blättern auch Blau und Grün, vereinzelt sogar Orange, aber tonangebend bleiben das Schwarz als die grafische Grundfarbe schlechthin und das Rot als sein Gegenpol, als Korrektiv. Wenn Schwarz als Farbe des Faktischen dient, um Gegenstände aufzuzeichnen, die ihr wichtig sind, dann repräsentiert Rot Vitalitätswerte wie Blüte und Blut, Schmerz oder Schönheit. Rot ist die Farbe der Geranien, der Berge hinterm Haus, des Kopfschmucks der Mädchen. Und es ist eine Umsturzfarbe, die alles mit sich reißt wie bei dem „Fuchs“ (2011), der von innen her zu verbrennen, womöglich zu explodieren scheint, oder bei dem Pferd, dem auf einer Zeichnung „ohne Titel“ (2012) nur so das Blut aus dem Maul fließt – ein tatsächlich erlebtes Ereignis, wie Oberkofler berichtet18.

Dass sie diesem leidenden Lebewesen ein ästhetisches Denkmal setzte, lässt an jenen rätselhaften Januartag des Jahres 1889 denken, als der Philosoph Friedrich Nietzsche einem Turiner Kutschengaul, den er misshandelt glaubt, „schluchzend und tränenüberströmt um den Hals fällt“ 19; eine ähnliche Szene schildert Fēdor Dostojewskij in seinem 1866 veröffentlichten Roman „Prestuplenie i nakazanie“ (Schuld und Sühne)“20. Aber bei Gabriela Oberkofler beruht die aus Mitgefühl gespeiste Zeichnung nicht auf einer spontanen emotionalen Regung, sondern auf einer grundsätzlichen Haltung. Die Brüche, Wunden und Verluste, die Oberkofler als Folgen avancierter Modernisierungsprozesse registriert, stilisiert sie weder zu plakativen Anklagen, noch suggeriert sie mit ihren Arbeiten, dass die Kunst über schnelle, schlagartig wirksame Lösungen verfüge. Vielmehr setzt Oberkofler auf Heilung, auf Wiedergutmachung – wie bei la tourterelle oder bei den über zwei Meter breiten großformatigen Zeichnungen, auf denen sie in minutiöser Aquarellmalerei die Kadaver von Insekten, Vögeln und anderen Tieren festhält, darunter ein Igel und ein Feuersalamander.

Oft sind es nur Bruchstücke, ein paar Flügel, der Torso einer Hummel, denen die Künstlerin ihre gleichermaßen sorgsame wie respektvolle Aufmerksamkeit widmet. Das Fragmentarische solcher Körperreste unterstreicht noch, wie vergeblich die mit Pinsel, Zeichenstift oder als Aktion vollendeten Maßnahmen letzthin sind: Die Taube verharrt in ihrem unfreien Zustand, und die Toten werden erst recht nicht wieder lebendig. Diese Vergeblichkeit freilich ist Programm. Oberkofler zielt nicht auf die Illusion einer Reparatur, sie strebt nicht nach zwanghafter Harmonisierung von Widersprüchen und Ungereimtheiten. Eher liegen die Dinge andersherum. Gerade dort, wo sie den Eindruck vermittelt, lediglich das Brauchtum der Altvorderen zu pflegen, rüttelt sie an der Wahrnehmung, bringt Konventionen durcheinander und unterzieht sie – freundlich lächelnd, aber eigentlich provokant – vorbehaltloser Überprüfung. Selbst in die Residuen der katholischen Kirche, deren Riten und Zeremonien viele als Garanten unwandelbar tradierter Werte erachten, dringt die Künstlerin vor, erklärt Hochzeit – Wir haben geheiratet (2006) oder spielt vor dem Beichtstuhl und auf der Kanzel Versteckelus mit Pfarrer Müller (2009). Nur, dass die Hände nicht zum Zeichen bußfertiger Einkehr  vor das Gesicht gehalten werden, sondern als Auftakt zum Versteckspielen, und dass die beiden Bräute in ihren prachtvollen weißen Kleidern offenbar der hochoffiziell sanktionierten Polygamie frönen: Immerhin wurden da, wie eine Serie von Fotos belegt, von den zwei festlich herausgeputzten Frauen gleich sechs entsprechend ausstaffierte Männer in den Stand der Ehe gebracht.

Das ist lustig und humorvoll, aber kein Witz und erst recht keine Verunglimpfung. Es ist eine Nagelprobe auf ernst und unernst. Denn in Zeiten von Scheidungsraten, die in Südtirol mit rund 30 Prozent zwar im Vergleich zu einem Nachbarland wie der Schweiz (über 50 Prozent) moderat ausfallen, aber auch dort steigende Tendenz aufweisen21, ist das romantische Bild von der Institution Ehe so gefährdet (und gefährlich) wie die Postkartenansicht eines idyllischen Bergdorfs mit Kirchturm in der Ortsmitte. Die Arbeit Hochzeit – Wir haben geheiratet kann man darum sowohl als Plädoyer für eine vertiefte Ernsthaftigkeit gegenüber dem Bund fürs Leben lesen, als auch zum Anlass nehmen, darüber zu reflektieren, ob es für die Zukunft notwendig sein wird, Alternativmodelle zu erproben, und sei es die von Oberkofler fotografisch durchgespielte Ehe zu acht.

Hier zeigt sich denn erneut, dass Ambivalenz, dieser Schlüsselbegriff für das Werk von Gabriela Oberkofler, just nicht für schillernde Zweideutigkeit steht, sondern für das Bewusstsein, dass die Dinge meist mindestens zwei Seiten haben und dass ihnen, sofern sie durcheinander geraten, mit einfachen oder gar einfältigen Rezepturen nicht beizukommen ist. Das kann dann heißen, das Eigene zu hüten, ohne vor dem Fremden allzu sehr auf der Hut zu sein, etwa in dem man an einem Teehaus auf der Insel Büvükada, das regelmäßig von türkischen Droschkenkutschern frequentiert wird, eine auf Stoff gedruckte Großaufnahme zweier Reiter in Südtiroler Tracht aufhängt (Prinzeninsel Istanbul, 2009) aufhängt und auf diese Weise eine ideelle Brücke zwischen zwei Regionen baut. Zu dem für Oberkofler konstitutiven  angereicherten Bewusstseinsstatus gehört außerdem als wesentliches Moment die Bereitschaft, bloßer Wahrscheinlichkeit zu misstrauen und dem Unmöglichen, vermeintlich Aussichtslosen zumindest einen Versuch zu gönnen: Als sie ein Stipendium im Herrenhaus Edenkoben wahrnahm, behauptete Oberkofler in Abwandlung des Johannes-Evangeliums Am Anfang war die Kirschbaumblüte22, postierte einen mehrfach verzweigten starken Kirschbaumast in einen Raum des Anwesens und behängte ihn mit Kirschkernen. Für Oberkofler waren sie Aggregate gespeicherter Erfahrung und ununterbrochener Kontinuität: „Man sieht den Kirschen an, was sie erlebt haben“23.

Knapp 110 Jahre nachdem Anton Čechov sein letztes Drama mit dem Abholzen eines ob seiner Blütenpracht weithin berühmten Kirschgartens enden lässt und klar macht, dass alles Vergangene und Überlieferte seine Gültigkeit verloren hat, weil fortan nurmehr das Prinzip kapitalrelevanter Zweckrationalität den Takt des Daseins bestimmen wird – ein langes Jahrhundert nach der Uraufführung von Čechovs gesellschaftskritischer Komödie „Višnëvyj sad“ (Der Kirschgarten) wirkt Oberkoflers Edenkobener Installation wie ein Aufbruchssignal. Wie eine Aufforderung das, was einmal den Rang des Neuen und Fortschrittlichen hatte, neu zu überdenken. Nicht um blind ins Alte zurückzufallen, sondern um dem Kern dessen näher zum kommen, was einem guten, gelungenen, tragfähigen Umgang mit der Welt und den Menschen angemessen ist. Jenseits von Jesenien, diesseits aller Tradition.

1 Rudolf Lill: Südtirol in der Zeit des Nationalsozialismus. Konstanz 2002, S. 158; s. außerdem S. 110f. und S. 115.
2 Thomas Wulffen: Performance. Überlegungen zu Marina Abramovićs Biography, in: Marina Abramović. Biography. Ostfildern bei Stuttgart 1994, S. 67-71, hier S. 71.
3 Zu den brachialen Erziehungsmethoden der Mutter s. Marina Abramović: Small Stories c. 1970, in: Kristine Stiles et al. (Hgg.): Marina Abramović. London 2008, S. 199-121.
4 Jörg van den Berg: durch nichts wird mehr, in: Jörg van den Berg et al. (Hg.): Gabriela Oberkofler – geblieben sind die Orte die dich sahen. Berlin 2012, S. 13-21, hier S. 17.
5 Ausstellung in der Kunsthalle Ravensburg / Columbus Art Foundation 10. Oktober 2011 – 27. Januar 2012.
6 Was Südtirol anbelangt, s. Lill, Südtirol, a.a.O., S. 179 oder 213 ff.
7 Brüder Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen (=KHM), Nr. 15.
8 s. Hans-Jörg Uther: Handbuch zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Berlin / New York 2008, S. 34.
9 Ausstellung im Hospitalhof Stuttgart 18. September – 18. Oktober 2009.
10 KHM Nr. 21.
11 Lk 6,21.
12 Gericht erteilt keine Lizenz zum Taubentöten, dpa/N 24 01.09.2011 17:33, s. http://www.n24.de/news/newsitem_7210029.html, zuletzt aufgerufen 19. März 2013.
13 ebenda.
14 Annett Reckert: In einem Haus, wo eine Taube wohnt, in: Helmut A. Müller (Hg.): Blut im Schuh, Katalog zur Ausstellung im Hospitalhof Stuttgart, 2009, o. S.
15 Ausstellung im Project Room des Museion Bozen/Bolzano 30.November 2012 – 10. Januar 2013.
16 Gabriela Oberkofler im Gespräch mit dem Autor am 11. März 2013.
17 ebenda.
18 ebenda.
19 Curt Paul Janz: Friedrich Nietzsche. Biographie. München / Wien 1979, zit. nach der Taschenbuchausgabe, München 1981, Bd. 3, S. 34.
20 vgl. Janz, Nietzsche, a.a.O., S. 35.
21 s. etwa stol.it (=Südtirol online): Ehen in Südtirol: Erfolgschance bei 70 Prozent, http://www.stol.it/Artikel/Chronik-im-Ueberblick/Lokal/Ehen-in-Suedtirol-Erfolgschance-bei-70-Prozent, oder Landesinstitut für Statistik ASTAT: Eheschließungen, Scheidungen und Trennungen, http://www.provinz.bz.it/astat/de/bevoelkerung/eheschliessungen-scheidungen-trennungen.asp
22 s. Trägerverein Herrenhaus Edenkoben e.v. (Hg.): Am Anfang war die Kirschbaumblüte. Edenkoben 2012, insbesondere S. 4-6.
23 wie Anm. 16.