Was Gabriela Oberkofler so
alles mit sich rumschleppt!

Rainer Ganahl

Der Legende nach lebte der Sokratesschüler Diogenes in einer Tonne, wo er die Selbstzufriedenheit und Simplizität von Hunden – griechisch Kyon – predigte. Mit dieser Art Philosophie zu praktizieren kreierte er eine Schule von Kynikern, die sich mit umtriebigem Weltbürgertum, radikaler Unabhängigkeit und kritischer Rede identifizierten. Äußerlich waren Kyniker am Wanderstab, am Rucksack und an häuslicher Anspruchslosigkeit zu erkennen. Die Buggelkraxenträger, die Gabriela Oberkofler zur ihren Buggelkraxenarbeiten inspirierten, führten und führen vereinzelt auch heute noch ein kleines aber hartes »Hundeleben« in den Tiroler Alpen. Landwirtschaftliche und häusliche Hilfsarbeit in den steilen Bergregionen der Alpen versprach kostenlose Unterkunft und Verpflegung den durchs Land ziehenden jungen Leuten. Was jedoch bei Diogenes eine radikale, freie, philosophische Entscheidung voraussetzte, war bei den Buggelkraxenträgern nur bedingt eine freie Wahl, da sie sich meistens aus der Klasse der besitzlosen jungen Knechte rekrutierten. Der nichtsesshafte Lebensstil und das zeitlich begrenzte Auftauchen aus dem Unbekannten dieser Bergleute kam einer möglichen Romantisierung der Verhältnisse entgegen, was ab und zu nicht nur die Früchte dieser Zeitarbeit, sondern auch Liebschaften und Kinder zurückließ.

Gabriela Oberkofler weiß von was sie spricht, denn sie entstammt einer aktiven Bergbauernfamilie aus Südtirol, das sie vor Jahren für das Kunststudium verließ. Es war ihre freiwillige Entscheidung, die mit sehr alten ideosynkratischen Traditionen, Bräuchen und speziellen ästhetischen Vorgaben besetzte Heimat zu verlassen und sich zeitgenössischer Kunst in Stuttgart zu widmen. Sie ist auch nicht alleine, wenn sie sich entscheidet, ihre Herkunft und Traditionen im vorerst neutralen Kontext von urbaner internationaler Kunst zu thematisieren. Mit einer bunten Mischung aus Medien – Performance, Video, Fotografie, Zeichnung, Installationen und Objekten – schafft Oberkofler ein sehr spannendes Werk, das zwischen ihrer heimatlichen Bergwelt und der reflektierten Logik heutiger geopolitischer Empfindlichkeiten zu vermitteln versucht. Südtiroler Bauernwitz trifft hier auf postmoderne konzeptuelle Strategien ohne künstlerische Verantwortlichkeit abzuschütteln. Oberkoflers Spiel mit den hochalpinen Wurzeln muss ständig zwischen touristischem Kitsch, Volkskunst, outsider art, regionalem Marketing, persönlichen und kollektiven Erinnerungen und existentiellen Traumata verhandeln, was immer wieder aufs Neue spannend ist, obwohl weder eine Formel noch ein Stil die ertragbare Mischung für Erfolg garantiert.

Ihr jahrelanges Engagement mit den unterschiedlichsten Versatzstücken ihrer Herkunft beinhalten u. a. Installationen mit (Hühner)ställen und Vogelgräbern, das Überblenden mit Jodlermusikstars, das Spiel mit lokalen Anekdoten und Aberglauben als auch surreal anmutende Zeichnungen von Bergvieh, brennenden Ameisenhaufen und Vögeln, in denen Oberkofler sich mitunter selber spiegelt und inszeniert. Selbst das Ziehharmonikaspiel hat sie für ihre Performances langwierig erlernt. Mit den Buggelkraxearbeiten öffnet sich die Künstlerin auch der Skulptur, ohne dabei auf Medienanschlussfähigkeit zu verzichten. An ihnen werden auch allgemeine künstlerische und philosophische Fragestellungen sichtbar, was schon einleitend durch die Projektion auf Diogenese angedeutet wurde: das Verhältnis von Mensch und Haus, ein in der Kunst immer wieder neu gestelltes.

Erinnern möchte ich hier nur an ein paar künstlerische Positionen, die sich in interessanter Weise mit Oberkoflers Buggelkraxenarbeiten überschneiden. Bas Jan van Ader setzte sich in Los Angeles mit einem Stuhl auf ein Hausdach und ließ sich fallen. Der Holländer zeigte wenig Interesse, sich an einem Haus, eine Metapher für Zugehörigkeit und Stabilität festzuhalten, was sicherlich sein tragisches Ende vorausahnen ließ. Van Ader versuchte mit tödlicher Konsequenz alleine in einem kleinen Segelboot den Atlantik zu überqueren. Sein Haus/Boot wurde vor Marokko treibend gefunden, er jedoch nicht. Marina Abrahmovic, die von ihrer militärisch-strengen Mutter bis über ihren 29. Geburtstag hinaus gezwungen wurde, ausnahmslos um 10 Uhr abends zuhause zu sein, wählte in den 70iger und 80iger Jahren zusammen mit ihrem Partner Ulay nur einen alten Citroen-Polizeibus mit der Glasaufschrift »Art is Easy«, in dem sie über Jahre hausten. Auch für Vito Acconci ist das Verhältnis Mensch und Haus ein zentrales. Nicht nur hat er immer wieder Häuser gebaut und konzipiert, die direkt an den Körper gebunden sind und dementsprechend auch auf dem Kopf stehen können oder in sich zusammenfalten, er hat das Haus als eine Fortsetzung der Funktion Mensch und seiner Begierden selber verstanden. So lagt er etwas unter einem Holzboden und masturbierte für Stunden oder saß in einem Kellerloch mit verbundenen Augen auf alles auf ihn zukommende einschlagend. Was ein Mensch und was ein Haus ist, wird hier selber zur Frage. Als letztes Beispiel möchte ich hier an Louis Beourgois erinnern, die schon in den 1940iger Jahren Zeichnungen machte, die das Verhältnis Mensch und Haus sehr ungewöhnlich behandelten. Die Zeichnung Femme maison (dt: Frau Haus) von 1947 zeigt wie eine Frau mit einem Haus verschmolzen ist. Bourgeois’ Kommentar entsprechend, zeigt sich die Frau » … at the very moment that she thinks she’s hiding.« (Louise Bourgeois: Drawings and Observations, Boston, New York, London, Bulfinch Press, 1996) was das Haus mit Schutz, Kleidung, Versteck und Selbsttäuschung in Verbindung bringt. Diese Themen kulminierten in der Marmorskulptur mit demselben Titel von 1994, die eine am Rücken liegende armlose Frau darstellt, deren Kopf nur aus einem Marmorhäuschen besteht. Diese Skulptur spielt nicht nur auf die linguistische Nähe von femme fatale und femme de ménage, (dt: Hausfrau) an, sondern ist auch als eine Stellungsnahme zu den klassischen Rollenzuordnungen von Frauen und den daraus resultierenden psychologischen Stress zu verstehen.

Dieser kurze Abstecher in die Häuserwelt anderer Künstler – ein endloses Unterfangen mit Künstlern, die auch Häuser zerschnitten, in die Luft sprengten, abfackelten, im Meer versanken, erotisch missbrauchten usw. – soll zeigen, wie schnell Oberkoflers Kunst an Komplexität und Relevanz gewinnt, die weit über ihre Alpen hinausreicht, selbst wenn sie mit ihren Buggelkraxe am Rücken noch lokale Identitätsfragen, Nostalgie und Heimweh direkt anspricht. Oberkoflers architektonische Leichtbaukonstruktionen sind aus hölzernen Obst- und Gemüsekisten fabriziert, wie sie in Ihrer Gegend noch Verwendung finden. In städtischen Kontexten wurden Holzkisten schon durch Kartonschachteln und solchen aus synthetischen Materialien ersetzt. Die abstrakten Bauten sind so gebastelt, dass sie sich als Gebäudekürzel, – die Kirche, das Bauernhaus, das Schulgebäude, das Gasthaus usw. – ineinander setzen lassen, um sie auf dem Rücken transportieren zu können. Zwei Fotos zeigen auch die Künstlerin in Stuttgart und in Südfrankreich, wie sie dieses ganze Dorf mit sich auf die Reise nimmt. Im Gegensatz zu einer Louise Bourgeois’schen Verschmelzung von Haus und Mensch handelt es sich bei Oberkofler um eine Last, der man sich wie einen Rucksack auch wieder leicht entledigen kann. Die architektonischen Gebilde können problemlos überall aufgestellt werden und ein Dorf repräsentieren. Es darf hier hinzugefügt werden, dass unsere miniaturisierten Informationstechnologien genau das mittlerweile erlauben: ein permanentes, raumunabhängiges Verbundensein mit all jenen sozialen und beruflichen Umgebungen, die für uns Zuhause, Büro oder Freizeit ausmachen.

Ein weiteres Objekt der Ausstellung, das einem Hause in vielem verdächtig und unheimlich verwandt ist, stellt der Vogelkäfig dar. Vogelkäfige werden meistens in häuslichen Bereichen für die Haltung von domestizierten Vögeln erlaubt. Es handelt sich also um ein Haus in einem Haus, das von fliegenden Kreaturen bewohnt wird, die der Natur in vielem aber nicht allem entfremdet sind und über keinen unbegrenzten Luftraum verfügen. Für ihr Video Kleine Taube entlieh Oberkofler aus einem Vogelgeschäft in Frankreich eine tourterelle, die sie wiederum mit ihrem natürlichen Habitat konfrontierte. Obwohl sie dem Vögelchen freie Gewähr einräumte, nahm es dieses Freiheitsangebot nicht an und beteiligte sich nur akustisch an der natürlichen Willkürlichkeit seiner Artgenossen. Der Spaziergang der kleinen Taube mit ihrem Käfig endete so wiederum am Ausgangsort, der Vogelhandlung, als ob die Ausgangswarnung der Verkäuferin, dass sie nämlich die freie Wildbahn nur drei Tage lang überleben würde, auch vom Vogel verstanden wurde. Das Vogelthema findet zeichnerisch seine bunte, pointillistische Fortsetzung. Ein weiterer tierischer Lebensraum, der von der Künstlerin dramatisch in seiner Zerstörung gezeichnet wird, ist der von Ameisen. Die gegebene Seehöhe ihres Bergdorfes begünstigt Lärchen, die für Insekten anfällig sind und daher ein Paradies für Ameisenkolonien darstellen, was eine Unmenge von Ameisenbauten auf freiem Feld erklärt, die den mähenden Bauern mit ihren Traktoren ein Hindernis bereiten. Diese trockenen tiefen unterirdisch verknüpften Bauten wurden 1975 von den Bauern einfach abgefackelt, was der Künstlerin stark in Erinnerung blieb und von ihr in einer Zeichenserie umgesetzt wurde.

Den Zeichnungen von Oberkofler haftet etwas Unheimliches an, was sich nicht etwa durch die vertrauten Themen auflöst oder was etwa durch die unvertrauten, verstörten Sujets geschaffen wird. Es erklärt sich wahrscheinlich eher durch die Quasi-Absenz von Flächen und Linien und ihre unnatürliche, psychologisch intensive Farbgebung. So viele ihrer Subjekte lösen sich wie ein Ameisenhaufen oder ein Bienennest in extremfarbigen Punkten und kurzen katatonischen Strichen auf, was destabilisierend wirkt. Ob Hund, Vogel, Bach, Brücke, Kirchenturm, Pferd, brennender Ameisenhaufen oder sie selbst, alles steckt in einer filzstiftanimierten, animistisch-psychologischen Unheimlichkeit, die Oberkoflers erinnerte Heimat abstrakt verbildlichen will. Obwohl all jene, die Alpen nur von Reisen kennen immer wieder was Folkloristisches, Naiv-Verkürztes wittern, ist hier ein psychologisch Unbewusstes am Werk, das dem Unheimlichen dieser Zeichnungen in nichts nachsteht und sich nicht auf Lokalitäten reduzieren lässt. Oberkofler schafft es, Heimat und Kunst trotz ihrer Bezugspunkte Kindheit unheimlich zu machen, ohne jedoch einer alpinen Heimatkunst zu verfallen. Das Geheimnis, das Gabriela Oberkofler mit sich rumschleppt heißt zeitgenössische Kunst und muss wie die Ware der Wilderer mit Vorsicht genossen werden.

Rainer Ganahl, New York, August 23, 2010